Winter ARC
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Den Winter nutzen.
TikTok-Trends gibt es wie Sand am Meer und ehe man von manchen Wind bekommt, sind sie schon wieder Schnee von gestern. Doch dann gibt es auch die anderen, die sich über Monate hartnäckig halten und von so manchen Menschen fast schon zur Lebensphilosophie auserkoren werden. So wurden die Monate Juni, Juli, August und September vom sogenannten „Brat Girl Summer“ dominiert. Inspiriert von Popsängerin Charli XCX und ihrem Anfang Juni erschienenen Album „brat“ stand der Sommer ganz im Zeichen der Göre (auf Englisch „brat“). Plötzlich war es wieder cool, nächtelang zu feiern, nur um dann geschminkt in irgendeinem Bett aufzuwachen. Regeln? Gab es keine.
Spaß? Dafür umso mehr. Mit der kalten Jahreszeit scheinen die TikTok-User sich aber wieder einem neuen Ideal zu widmen. Und der Unterschied zum hemmungslosen Sommer könnte nicht größer sein.
Den Winter nutzen. Denn seit Anfang Oktober gibt der „Winter Arc“ auf Social Media den Ton an. Der Begriff stammt aus der Literaturtheorie. Das Wort „Arc“ (auf Deutsch „Bogen“) steht für einen Handlungsbogen, der sich über -mehrere Kapitel eines Buches oder Episoden einer Serie zieht. An dessen Ende steht schließlich eine Charakterentwicklung. TikTok-User haben den Begriff aufgeschnappt und als neuen Trend eingeführt. Im Fokus steht die Selbstdisziplin. Denn für neue Vorsätze braucht es schließlich kein neues Jahr. Stattdessen werden die kühlen Wintermonate genutzt, um das -Beste aus sich herauszuholen. Dabei werden die eigene mentale wie auch körperliche Gesundheit priorisiert. Pünktlich zum Start des neuen Jahres oder zum Jahreszeitenwechsel blickt man dann der eigenen optimierten Version im Spiegel entgegen.
Extremer Trend.
Extremer Trend. Auf den ersten Blick klingt der Trend sehr vernünftig. Gerade in der kalten Jahreszeit leiden viele an Demotivation oder am Winter-Blues. Dabei kann ein strukturierter Alltag helfen, sich aufzurappeln. Sport kurbelt wiederum die Endorphin-Produktion an und lässt uns besser und ausgeglichener fühlen. Doch schaut man sich die auf Social Media festgelegten Regeln des -„Winter Arc“ an, klingt das eher nach Stress: -Frühes -Aufstehen, eine ausgewogene Ernährung, fünf Mal die Woche Sport, das Erlernen von neuen Fertigkeiten, Achtsamkeitsübungen, persönliche Reflexion, Meditationseinheiten sowie Digital Detox stehen dabei auf dem Plan. Schon allein das Lesen dieser To-do-Liste schreit nach Burn-out. Denn für Punschtrinken und Keksebacken mit den Liebsten oder für Fernsehabende auf der Couch scheint keine Zeit mehr zu bleiben. Und genau dieses Extrem ist das Gefährliche am gehypten Trend. Via Social Media kündeten zahlreiche „Winter Arc“-Teil-nehmer sogar an, soziale Kontakte für die nächsten Wochen aus ihrem Leben zu streichen, um sich ganz ohne Ablenkung auf sich selbst konzentrieren zu können.
Selbstoptimierung.
Selbstoptimierung. Schöner, besser, fitter, schneller – die Welt auf Social Media scheint aus Superlativen zu bestehen. Doch woher kommt eigentlich dieser ständige Drang nach Selbstoptimierung? „Trends wie ‚Winter Arc‘ stehen eng mit den gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre in Zusammenhang, die durch Social Media noch einmal extra gepusht werden. Es findet eine Idealisierung von Fitness, Schönheit und Erfolg statt. Viele glauben dann wiederum, dass diese Ideale der Maßstab sind, vergleichen sich und eifern dem nach“, erklärt die Psychotherapeutin Teresa Pelzmann. Das schürt nicht nur Selbstzweifel, sondern auch das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Vor allem Jugendliche leiden unter dem online auferlegten Druck unerreichbarer Schönheitsideale. Das zeigt eine Anfang des Jahres erschienene Studie zum Thema „Schönheitsideale im Internet“, die im Rahmen der EU-Initiative Saferinternet.at durchgeführt wurde. Rund 400 Jugendliche im Alter zwischen elf und 17 Jahren wurden im Dezember 2023 befragt. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer gab demnach an, etwas an ihrem Aussehen verändern zu wollen. Bei den Mädchen waren es sogar 60 Prozent. Mehr als ein Viertel der Befragten hat schon einmal über eine Schönheitsoperation nachgedacht.
Positiver Einfluss.
Positiver Einfluss. Skurril ist, dass zu den Hauptzielen eines im Netz ausgerufenen Trends Digital Detox gehört – also Smartphone-freie Auszeiten. Das spiegelt die Ambivalenz von Social Media wider: Einerseits versuchen wir, uns von Instagram und Co. zu distanzieren, andererseits können wir es nicht lassen, unsere Erfolge wie Trophäen im Internet zu präsentieren. Dass Social-Media-Fasten aber einen erheblich positiven Einfluss auf unser Körperbild haben kann, zeigt eine Studie, die an der York Universität im kanadischen Toronto durchgeführt und im Juni in der Fachzeitschrift „ScienceDirect“ publiziert wurde. 66 teilnehmende Psychologie-Studenten wurden in zwei Gruppen unterteilt. Die erste Gruppe musste eine Woche lang auf sämtliche Social-Media-Plattformen verzichten, die andere Gruppe durfte -Instagram, Facebook, TikTok und Co. weiterhin uneingeschränkt benutzen. Die Studienteilnehmer wurden zu Beginn und am Ende der Studie zu ihrem Selbstwertgefühl und zur Einstellung zu ihrem Körper befragt. Am Ende der Woche zeigten sich bereits deutliche Unterschiede zwischen den Studierenden. Diejenigen, die eine Woche ohne Social Media verbringen mussten, waren weitaus zufriedener mit ihrem Körper und ihrem Aussehen.
Ein Meisterwerk.
Ein Meisterwerk. „Trends wie -‚Winter Arc‘ können positive Anreize schaffen, um das mentale Wohlbefinden zu steigern und sich selbst besser kennenzulernen“, so Pelzmann. Doch statt sich verbissen Ziele zu setzen, empfiehlt die Expertin, neue Routinen in den Alltag einzubauen, die die eigene Persönlichkeit unterstreichen. „Wichtig ist es, sich eigene und individuelle Ziele zu setzen, die erreichbar sind. Ohne intrinsische Motivation ist es sowieso schwierig, motiviert bei der Sache zu bleiben“, resümiert sie. Was möchte ich erreichen? Was macht mir große Freude? All diese Fragen können bei der Zielsetzung helfen. Wer beispielsweise nicht gerne läuft, muss sich auch nicht zum Laufen zwingen. Stattdessen gibt es zahlreiche andere Sportarten, die vielleicht besser zum eigenen Ich passen. Pelzmann appelliert aber auch, nicht die emotionale Komponente zu übersehen: „Wenn wir an Vorsätze denken, denken wir immer an mehr Bewegung oder eine gesündere Ernährung. Man könnte sich aber auch das Ziel setzen, einmal die Woche die Großeltern zu besuchen oder mit der besten Freundin einen Kaffee zu trinken.“ Ohne Zwang, dafür mit umso mehr Freude: Mit solchen Plänen lassen wir das
Jahr 2024 doch viel lieber ausklingen.