Wie uns die Kindheit prägt: Da war doch was
Tief verborgen in unserem seelischen Mülleimer lauert oft unsere Kindheit. Wer kennt nicht Albträume von der plötzlichen Mathematik-Schularbeit, die man unvorbereitet in Angriff nehmen muss. Wer wird nicht in die Kindheit gebeamt, wenn er frisch gebackene Kekse riecht. Und womöglich ist das Weihnachtsfest, das wegen der Scheidung der Eltern zu Katastrophe wurde, auch als Erwachsener alles andere als ein Fest. Schlimmstenfalls haben Erlebnisse im Zusammengang mit Missbrauch oder Gewalt in der Kindheit einen Menschen oft ein Leben lang "im Griff", wenn nichts dagegen unternommen wird. Vermeintlich kleine Probleme in der Kindheit können ziemlich wachsen. Der Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Uni Wien, Universitätsprofessor Max Friedrich, der unter anderem auch den "Fall Kampusch" betreute, meint: "Durch Erlebnisse, die den Selbstwert verletzen, können sich Kleinigkeiten zu Problemen auswachsen." Diese Gespenster der Kindheit enden für die späteren Erwachsenen oft in der Depression.
Der Nase nach
Es gibt aber glücklicherweise nicht nur negative Erinnerungen. Wenn Eltern es schaffen, Werte und Geborgenheit zu vermitteln, muss "Weihnachten als Erwachsener" nicht abgesagt werden. Viele Erwachsene kehren im Laufe des Lebens gerne zu den Schauplätzen ihrer Kindheit zurück. Und die gefühlte Geborgenheit als Kind hilft auch im Alter, den Alltag zu meistern. Vor allem aber sind es Gerüche, die einen positiven Flashback auslösen. Manche Eltern können beispielsweise die eigene Vergangenheit im Kindergarten ihrer Kinder riechen. Der Mix aus Banane, dampfende Socken, Essensresten wird dann durchaus angenehm empfunden. Das liegt daran, dass der menschliche Geruchssinn extrem stark mit Erinnerungen verknüpft ist. Und: Wir merken uns Düfte unglaublich lange - und vor allem wissen wir auch nach Jahrzehnten, wie die Bettwäsche der Kindheit gerochen hat.
Muster
Erfahrungen in der Kindheit wirken extrem prägend. Nicht immer ist sich der Mensch über die Auswirkungen bewusst. Die Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie, Eva Mückstein, nennt ein Beispiel: "Ein Mann scheitert ständig in Liebesbeziehungen und leidet sehr darunter. Diese Person wurde in der Kindheit von seinen Eltern immer wieder zurückgewiesen und in seinem Bedürfnis nach Zuneigung enttäuscht. Daraus entwickelte sich ein Muster als Schutzfunktion: Um nicht mehr verletzt zu werden, sagt er sich einerseits, ich brauche niemanden, ich lasse niemanden an mich heran. Gleichzeitig war dieser Mann beständig auf der Suche nach Nähe und Zuneigung. In seinen bisherigen Partnerbeziehungen klammerte er, und wenn es zu nahe wurde, ergriff er die Flucht und ging auf Distanz. Beziehungsschwierigkeiten sind in dieser Konstellation vorprogrammiert." Ein anderes Beispiel sind Scheidungskinder. Sie erleben einen Verlust und haben dann als Erwachsene oft eine starke Trennungssensibilität entwickelt. Oder: Wer sich vor Veränderungen fürchtet, wurde als Kind nicht selten in der Entdeckungsfreude und Neugier behindert. Und Kinder überbehütender Eltern, sind eher furchtsam. Überhaupt wird unser späteres Verhalten vor allem durch die Eltern geprägt. Ein "Klassiker" sind auch die Erlebnisse im Zusammenhang mit unserer Schulzeit.
Albtraum Schule
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft - und dementsprechend hoch sind die Erwartungen in Kinder oder Jugendliche auch in der Schule. Wenn jemand als Kind Aufmerksamkeit und Zuwendung hauptsächlich durch gute Leistungen bekommt, wird man dieses Muster womöglich nicht mehr los. Der Erwachsene definiert sich nur noch über Leistung oder kennt seine Leistungsgrenzen nicht. Eva Mückenstein: "Es kann durchaus sein, dass sich aus einer solchen Erziehungshaltung eine narzisstische Problematik mit enormer Selbstüber- oder Selbstunterschätzung entwickelt." Dazu kommt, dass viele Eltern überhaupt ihre eigenen Geltungsbedürfnisse auf das Kind projizieren. So gesehen muss man sich nicht wundern, wenn wir noch mit 40 Jahren in der Nacht aufwachen, weil wir soeben geträumt haben, dass wir für die Schularbeit nicht gelernt haben. Derartige Albträume haben aber auch eine gute Seite. Sie sind ein Versuch der Seele, Vergangenes zu bewältigen. In den Träumen gibt es oft wieder kehrende Themen.
Therapie?
Müssen wir womöglich alle in Therapie, da fast jeder einen kleinen "Kindheits-Rucksack" mit sich herum schleppt? Max Friedrich: "Es muss natürlich nicht jeder eine Therapie machen, sonst wird alles zu sehr "psychologisiert". Außerdem werden ja ohnehin viele Erlebnisse der Kindheit dadurch ausgeglichen, dass die Eltern einfach Liebe und Geborgenheit geben." Das Zauberwort heißt übrigens Kompensation - der Ausgleich von "Mängeln". Damit ist gemeint, dass jemand eine eingebildete oder echte Minderwertigkeit ausgleicht und nicht verdrängt. Max Friedrich vereinfacht dies: "In den 60ern gab es die Läuferin Wilma Rudolph, die als Kind wegen Kinderlähmung im Rollstuhl saß. Mit 20 Jahren pulverisierte sie den Weltrekord im 200-Meter-Lauf. Und Beethoven hat seine letzte Sinfonie "taub" verfasst. Beide haben in diesen speziellen Fällen ihre "Behinderungen" kompensiert. Das bewusste oder unbewusste Verdrängen von schlechten Erfahrungen ist übrigens der falsche Weg. Das kann erst recht zu psychischen Krankheiten führen.
Kostenfaktor Psyche
Psychische Krankheiten, die nicht behandelt werden, kosten auf lange Sicht gesehen viel Geld. Wenn man sich vorstellt, dass ein Drittel aller krankheitsbedingten Frühpensionen auf psychische Störungen zurückzuführen sind und ein guter Teil durch entsprechende Therapie abgewendet werden könnte, wird klar, wie wichtig Therapien sind. Eva Mückenstein: "Man kann davon ausgehen, dass in Österreich rund zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung psychotherapiebedürftig sind und eine solche Behandlung gerne in Anspruch nehmen würde. Tatsächlich sind nur 0,8 Prozent in Behandlung! Der Bedarf wäre demnach enorm. Das Problem sind die Kosten, die kaum übernommen werden. In der Schweiz und in Deutschland wird psychische Behandlung voll kassenfinanziert. Deswegen sind dort etwa drei Prozent der Bevölkerung in Behandlung." Das bedeutet aber nicht, dass wir alle gleich eine Psychotherapie angehen sollen. Eher, dass man das Problem unterschätzt. Und: Jährlich gibt es in Österreich 78.000 Krankenstände aufgrund psychischer Krankheitsbilder. In den letzten beiden Jahren haben diese um fast ein Viertel zugenommen! Wenn man bedenkt, dass in Deutschland zehn bis fünfzehn Prozent der Kinder schwerwiegende und gehäufte Gewalt erleiden müssen, wird zusätzlich klar, warum auch viele Erwachsene "von der Kindheit verfolgt werden".