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Tourismus
Venedig als Brennpunkt des Overtourism: Seit Kurzem verlangt die Stadt von Reisenden Eintrittsgebühren.
Venedig als Brennpunkt des Overtourism: Seit Kurzem verlangt die Stadt von Reisenden Eintrittsgebühren.
Alberto Lingria Xinhua / Eyevine / picturedesk.com

Vom Pilgerstab zum Selfiestick

25.11.2024 um 13:04, Klaus Schobesberger
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Tourismus: Vier Jahre nach Corona ist die neue Realität längst wieder die alte Realität. Eine kurze Geschichte des modernen Reisefiebers.

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Wenn das herbstliche Grau überhandzunehmen scheint, dann ist wenigstens auf eine Publikation Verlass, um etwas Farbe in die alljährliche Tristesse zu bringen. Ihr Name: Lonely Planet. Der in den 70er-Jahren in Australien -gegründete Reiseführer gibt um diese Zeit traditionell seine Empfehlungen darüber ab, welche Regionen und Städte im kommenden Jahr einen Besuch wert sind. Lonely Planet („Einsamer Planet“) war ursprünglich für Rucksacktouristen und Individualreisende gedacht, entlegene Ecken der Welt zu erkunden. Heute ist die Klientel betuchter und die Destinationen sind exklusiver. Der berühmte Guide bildet aber auch immer gut den vorherrschenden Zeitgeist ab, der, so gewinnt man den Eindruck, inzwischen schneller wechselt als die Kollektionen schwedischer Modediskonter. Als nach Jahren des allseits gegeißelten Overtourismus Corona die Reisetätigkeit weltweit zum Stillstand brachte, hat Lonely Planet 80 klimafreundliche Reiserouten zusammengestellt. Ohne Flugzeug, versteht sich. Kreuzfahrten wurden totgesagt. 

Das Sinnbild des Massentourismus

Trotz seiner verheerenden Ökobilanz boomt das Kreuzfahrtgeschäft wieder. Und in Venedig gehören die Schiffsungetüme im Giudecca-Kanal wieder zum Alltagsbild. Die Lagunenstadt ist -heute Sinnbild für den Massentourismus. Denn die 15 Millionen jährlich einströmenden Touristen lassen sich weder von grantigen Gondolieri noch von Fantasiepreisen im Caffè Florian am Markusplatz abschrecken. Daher verlangt die einstige Handelsmetropole mit dem morbiden Charme seit Kurzem Eintrittsgebühren für Besucher. Die „Serenissima“ entwickelt sich ohnehin zu einem urbanen Freilichtmuseum mit immer weniger Bewohnern: Die Zahl der „echten“ Venezianer hat sich in vierzig Jahren von 100.000 auf 50.000 halbiert – und jedes Jahr verschwinden weitere 1.000. Spätestens im Jahr 2070 darf sich Venedigs Bürgermeister endgültig Leiter des größten historischen Disneylands der Welt nennen. Während der Schweizer Ökonom Bruno Frey als Lösung vorschlägt, ein „neues Original“ der Lagunenstadt unweit des echten Venedigs zu bauen und dieses mit Virtual-Reality- und Augmented-Reality-Erlebniswelten auszustatten, ist dies im Fall von Hallstatt bereits geschehen. China hat in der Provinz Guangdong eine Kopie von Österreichs berühmtester Alpen-Perle errichtet. Die Errichtungskosten inklusive eines künstlichen Sees -betrugen 900 Millionen US-Dollar.

 

Die grüne Hauptstadt Europas
Abgelegen: Lonely Planet kürte Vilnius zur „Grünen Hauptstadt Europas“.

Über den Brenner in den Süden

Die Geschichte des Tourismus ist ein Phänomen der Moderne, dessen Vorläufer bis ins Mittelalter zurückreichen. Eisenbahn, Automobil und Flugzeug sowie der Ausbau der Verkehrsnetze sorgten für eine enorme Beschleunigung des individuellen Reisens. Allein von 1950 bis 2000 sind die Ankünfte weltweit von 25 auf 674 Millionen angestiegen. In den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts ging es noch rasanter nach oben, nämlich auf rund 1,4 Milliarden. Die -symbolträchtigste Straße für den Urlaubsreiseverkehr in Richtung Süden ist der Brenner. In der Nachkriegszeit führten der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer und sein Wirtschaftsminister Ludwig Erhard das -zerstörte Land aus der Bedeutungslosigkeit. Volkswagen in Wolfsburg war damals ein wichtiger Teil des Aufschwungs. Das Wirtschaftswunder verlieh dem Fernweh Flügel. Der VW Käfer war auch in Österreich Sinnbild des aufkeimenden Wohlstands, und Urlaub wurde ein Recht für alle Schichten. Dank des eigenen Autos drangen Touristen in alle Täler Südtirols vor, verwandelten die Alpen in einen ganzjährig geöffneten Erlebnispark und bevölkerten die Strände der Adria. Im Schloss Trauttmansdorff in Meran, dem einstigen Winterdomizil von Kaiserin „Sisi“ Elisabeth, beschäftigt sich eine Dauerausstellung im Touriseum mit der Tourismusgeschichte. Es lohnt sich ein Rückblick auf die Anfänge des modernen Tourismus, die viel mit Italien und noch mehr mit Rom zu tun haben.

Pilger als Devisenbringer

Die antike Metropole wurde nach dem Niedergang des Byzantinischen Reichs und dem Fall Jerusalems im Jahr 636 zum wichtigsten Pilgerziel der Christenheit. Im ersten Jahrtausend erschien der erste Pilgerführer – eine Art „Lonely Planet“ für Fromme – und in Rom wurden erstmals Souvenirs in Form von kleinen Fläschchen mit heiligem Öl aus Jerusalem feilgeboten. Jahrhunderte bevor -Städte wie Venedig auf die Idee kamen, Reisenden Eintrittsgeld abzuverlangen, erhob das Papsttum Zölle an den Stadttoren Roms. Neben dem Peterspfennig, den Europas Herrscher an die Kirche für den Bau des Petersdoms zahlten, mehrte sich das Vermögen des Klerus vor allem dank Roms größtem Geldbringer: den Pilgern. Unter Papst Gregor VII. (†1085) blühte der Pilgerhandel in der Stadt. Die Kirche erhob Steuern auf die Herbergen, in denen die Pilger übernachteten. Sie besteuerte auch die Läden, die nun den großen Säulengang zum Petersdom füllten. „Dort konnten die Pilger jede Art von Dienstleistung in Anspruch nehmen, von der Reparatur von Schuhen bis zum Ziehen von Zähnen, und alles kaufen, von Stroh für ihre Betten und Pferde bis hin zu Souvenir-Rosenkränzen und Ölfläschchen von den Lampen, die über dem Grab des Heiligen Petrus brannten“, schreibt der in Rom lebende Autor Matthew Kneale. Vor allem aber kassierte die Kurie alle Münzen, die die Pilger auf den Altar des Petersdoms warfen. Die Päpste verdienten sogar an den toten Pilgern, indem sie das Eigentum all jener beanspruchten, die auf ihrer langen Reise starben.

 

Der junge Dichter Johann Wolfgang von Goethe in der römischen Campagna

Visionäre des Tourismus

Anfang des 19. Jahrhunderts war -Italien von einer völlig neuen Art von Besuchern bevölkert, den Kulturreisenden des europäischen Adels und Bürgertums. Die sogenannte Grand Tour wurde bei wohlhabenden Nordeuropäern immer beliebter, weil sie als anerkannter Weg zur Vervollständigung der eigenen Bildung galt. Während Goethe noch mit der Kutsche für seine „Italienische Reise“ Vorlieb nehmen musste, schwoll mit dem neu entstehenden Eisenbahnnetz die Zahl der Reisenden, die schon bald in Anlehnung an ein Rudel aus der Tierwelt abschätzig „Touristen“ genannt werden sollten, exorbitant an. Vor allem Bildungsreisende aus England nahmen sprunghaft zu. Lord Byron (†1824) beschwerte sich darüber, dass der Kontinent „von Engländern verseucht ist – ein Haufen glotzender Tölpel, die herumlaufen und gleichzeitig billig und großartig sein wollen. Ein Mann ist ein Narr, der jetzt in Frankreich oder Italien reist, bis dieser Stamm von Elenden wieder nach -Hause gefegt wird.“ Im Jahr 1846 zählte Rom 300.000 Besucher – doppelt so viele, wie die Stadt Einwohner hatte. Besonders Schriftsteller fühlten sich von Rom angezogen. Der britische Dichter John Keats wurde nach seinem Tod in Rom bestattet und zu einer Art Ehrenbürger. Im Jahr 1849 war der Cimitero acattolico (Nichtkatholischer Friedhof) unterhalb der Cestius-Pyramide überfüllt mit den Gebeinen -bedeutender Ausländer, die an Typhus, Tuberkulose, Malaria oder Reitunfällen gestorben waren. Obwohl es zahlreiche Reiseführer für die Stadt gab, veröffentlichte John Murray erstmals 1843 ein Standardwerk für Rom-Reisende. Murray, der als Erfinder des Konzepts der „Sehenswürdigkeit“ gilt und mit dem Deutschen Karl Baedeker als „Visionär des Tourismus“ gewürdigt wird, beschrieb darin nicht nur die Touristenattraktionen, sondern gab auch praktische -Ratschläge, wo man übernachten, wo man essen und wie man vermeiden kann, betrogen zu werden. Eine Art Vorläufer von Tripadvisor – oder Lonely Planet.

Rom
Trevi-Brunnen: Rom zählte bereits 1846 doppelt so viele Besucher wie die Stadt Einwohner hatte.

Die digitale Revolution

Das Ehepaar Tony und Maureen Wheeler hat ihre erste Lonely-Planet-Reiseführer-Ausgabe auf einer geliehenen Schreibmaschine in einem Keller in Sydney geschrieben. Rund 30 Jahre später sollten sie mit ihren Tipps für Rucksacktouristen rund 150 Millionen Exemplare verkauft haben. Dann kam die Internet-Revolution und die beiden Gründer haben Lonely Planet 2007 gerade noch rechtzeitig an BBC World-wide um 130 Millionen Britische Pfund verkauft. Rund sechs Jahre später stieß BBC das Unternehmen mit einem Verlust von 80 Millionen Pfund wieder ab. Die Marke, die sich jetzt im Besitz des amerikanischen Medienkonglomerats Red Ventures befindet, wird weitergeführt – aber mit mehr Reisetipps auf einem Smartphone als in jedem gedruckten Reiseführer Platz haben könnten. So wie die Informationen in der Lonely-Planet-Reihe dazu beigetragen haben, das Reisen zu demokratisieren, haben das Internet – und Unternehmen wie Tripadvisor – Reiseführer überflüssig gemacht, indem sie die Informationen demokratisiert haben. Die modernen Pilger benötigen keinen Wanderstab oder eine Absolution der Kirche, sondern einen Selfie-Stick und die Anerkennung der Fangemeinde in den sozialen Medien: „Ich war da.“

Über den Brenner: Der VW Käfer als Symbol einer neuen Reisefreiheit

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