"Es geht um das Eingemachte für unseren Industrie-Standort"
Die schlechten Nachrichten aus der heimischen Industrie reißen nicht ab – kommt es noch schlimmer?
Joachim Haindl-Grutsch: Derzeit sehe ich kein Licht am Ende des Tunnels und wir müssen daher noch mit vielen weiteren schlechten Nachrichten rechnen. Die österreichische Industrie steuert auf das dritte Krisenjahr in Folge zu – und das bei sinkenden Umsätzen, hohen Kosten und lähmender Bürokratie. Es herrscht Unverständnis, dass erst 52 Tage nach der Nationalratswahl mit den Regierungsverhandlungen begonnen wurde. Während dieser Zeit gingen täglich Arbeitsplätze in der Industrie verloren, die nicht mehr zurückkommen werden. Ein verlorener Arbeitsplatz in der Industrie reißt zwei weitere bei Zulieferern und Dienstleistern mit. Allein die oberösterreichische Industrie sichert gesamtwirtschaftlich gemäß einer aktuellen Studie des Industriewissenschaftlichen Instituts direkt, indirekt und induziert österreichweit eine Million Arbeitsplätze.
Es ist nicht die erste Krise für die Industrie. Was ist diesmal anders?
Haindl-Grutsch: Es ist primär keine Konjunkturkrise, sondern eine Strukturkrise. Jetzt geht es um das Eingemachte für unseren Industriestandort. Die letzte echte Strukturkrise hatten wir in den 1990er Jahren, damals aufgrund der Probleme der Verstaatlichten Industrie, natürlich mit ganz anderen Rahmenbedingungen. Die vergangenen drei Jahrzehnte profitierten wir von Globalisierung und Osterweiterung. Heute ist die Situation eine völlig andere. Die Amerikaner verteidigen uns nicht mehr, die Russen schicken uns kein billiges Gas mehr und die Chinesen nehmen nicht mehr alles, was wir exportieren. Damit muss sich ein Exportland wie Österreich neu aufstellen.
Viele fragen sich, wie es so weit kommen konnte. Waren wir nicht unter den Besten in Europa?
Haindl-Grutsch: Wir haben uns schleichend zur Vollkasko-Republik entwickelt. Corona hat diesen Trend noch massiv beschleunigt. Inzwischen gibt es zahlreiche Bereiche, wo wir nicht mehr in der ersten Liga spielen. So liegt Österreich seit Jahren beim Wirtschaftswachstum der 27 EU-Mitgliedsstaaten nur auf Platz 23. Der latente Rückfall Österreichs in allen Standortindikatoren, etwa im IMD-Ranking von Platz 14 auf Platz 26 in nur zehn Jahren, ist ein weiteres Beispiel für die sinkende Wettbewerbsfähigkeit. Verschärfend wirkt, dass unser wichtigster Handelspartner Deutschland in einer ähnlich prekären Lage ist wie Österreich.
Deutschland wählt im Februar einen neuen Bundestag, in Österreich ist eine Regierungsbildung im Gange. Was erwarten Sie sich?
Haindl-Grutsch: Deutschland wird nach der Wahl den Turnaround einleiten, darauf muss sich Österreich jetzt sehr ernsthaft vorbereiten und Entwicklungen vorwegnehmen. Österreich muss immer etwas kostengünstiger, schneller und flexibler als Deutschland sein, um im Windschatten profitieren zu können. Eine neue Bundesregierung muss rasch ein kurzfristig wirksames Standortrettungspaket und eine Innovationsoffensive sowie langfristige Reformen auf den Weg bringen. Das wird Schmerzen verursachen, die Alternative allerdings ist der fortgesetzte Abstieg verbunden mit massivem Wohlstandsverlust.
Leidet unsere Industrie nicht auch an einer globalen Nachfrageschwäche?
Haindl-Grutsch: Nein, denn auch jetzt wächst die Weltwirtschaft mit 3,2 Prozent sehr solide. Es gibt mehr als 60 Länder weltweit, die ein jährliches Wachstum von rund vier Prozent aufweisen. So schlecht läuft die Weltkonjunktur nicht. Aber Österreich und Deutschland wachsen nicht, weil sie mit hausgemachten Problemen kämpfen. Der Standort ist nicht mehr wettbewerbsfähig, weil wir zu teuer geworden sind, weil wir zu langsam geworden sind und weil wir auch nicht mehr gut genug sind. Diesmal reicht es nicht, an ein paar Schräubchen zu drehen. Es braucht disruptive Maßnahmen, die den Standort wirklich verbessern, und zwar schnell und merkbar.
Besonders betroffen ist der starke Automotive-Sektor in Oberösterreich. Wie schaut hier die Zukunft aus?
Haindl-Grutsch: Die erfolgreiche technologische Aufholjagd vieler globaler Mitbewerber wird am deutlichsten sichtbar am Beispiel der chinesischen Autoindustrie. Österreich ist nicht mehr um das besser, was es teurer ist. Aber es gibt auch Parallelen: Früher waren die Japaner und die Südkoreaner die großen Herausforderer – und die deutsche Autoindustrie hat sich jedes Mal neu erfunden. Diese Hoffnung habe ich auch jetzt wieder. Ich vertraue auf die Innovationskompetenz der Hersteller und unserer Zulieferbetriebe. Trotz allem: Die hohen Kosten sind auch hier das Hindernis. Neue Werke werden in Osteuropa oder Südosteuropa gebaut, während die Automobilindustrie aus Deutschland flieht. Es ist ein Drama, dass erneut eine echte Leitbranche unserer Industrie abzuwandern droht.
Sie erwähnten die Bürokratie. Was muss passieren, um diese Last zu senken?
Haindl-Grutsch: Man müsste zuerst in Brüssel ansetzen. Von dort kommen ständig neue Richtlinien und Auflagen. In Österreich verstärken wir die Bürokratie mit Gold-Plating, also mit der unnötigen Übererfüllung von EU-Mindeststandards. Ein Beispiel ist die Vorverlegung der Klimaziele von 2050 auf das Jahr 2040. Diese zehn Jahre an Beschleunigung, die ohnehin nicht erreichbar sind, bringen eine Lawine an Folgekosten mit sich. Im Süden oder Osten Europas sieht man das wesentlich entspannter. Österreich muss sich Gold-Plating abgewöhnen, Verfahren beschleunigen, mehr digitalisieren und den Föderalismus ein wenig in den Griff bekommen. Kein Mensch braucht neun Bauordnungen, neun Jagdgesetze oder neun Jugendschutzgesetze.
Gerade Oberösterreich hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten als sehr robust erwiesen. Wie kann es nun weitergehen?
Haindl-Grutsch: Richtig ist: Die oberösterreichische Industrie kann einerseits aus einer Position der Stärke heraus agieren. Es gibt viele solide Leitbetriebe, die global aufgestellt sind und Möglichkeiten haben, sich international weiterzuentwickeln. Andererseits hat Österreich eine hohe Verschuldungsquote von 80 Prozent und verzeichnet steigende Budgetdefizite trotz einer der höchsten Steuerquoten in Europa durch ein immer größeres Füllhorn an Förderungen und Umverteilungen. Die Regierung steckt in dem Dilemma, gleichzeitig sparen und investieren zu müssen. Wir haben kein trockenes Pulver mehr, das wir jetzt verschießen können. Dänemark, Schweden oder die Schweiz haben viel mehr Spielraum, mit Konjunktur-programmen Schwung in die Wirtschaft zu bringen.