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Wahlärzte machen einen immer größeren Anteil am Gesundheitssystem aus.
Wahlärzte machen einen immer größeren Anteil am Gesundheitssystem aus.
Wahlärzte machen einen immer größeren Anteil am Gesundheitssystem aus.
Martin Barraud / OJO Images / Getty Images

Gesundheitssystem: Die Qual mit der Wahl

11.10.2024 um 12:03, Michael Schwarz
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Kassenärzte gehen in Pension und finden keine Nachfolger. Die Zahl der Wahlärzte steigt hingegen. Kränkelt unser Gesundheitssystem?

Als im niederösterreichischen Blumau-Neurißhof 2019 der Gemeindearzt den Ruhestand antrat, suchte man monatelang nach einem Nachfolger. Letztlich richtete dort eine Ärztegruppe ihre Zweitordination ein. Im Sommer dieses Jahres wurde die Praxis ein weiteres Mal vakant. Der Arzt, der die Ordination hauptsächlich betreut hatte, ging nun ebenfalls in Pension. Mit Redaktionsschluss war die Stelle noch unbesetzt. Ein ähnliches Schicksal trifft bereits jetzt zahlreiche Gemeinden in ganz Österreich. Und viele anstehende Pensionierungen schweben wie ein Damoklesschwert über den Landpraxen. Warum sind die Kassenstellen so schwer zu besetzen?

Ein großer Vorteil ist, dass man sich für die einzelnen Patientinnen deutlich mehr Zeit nehmen kann als im Kassensystem.

Viktoria Nader, Gynäkologin & Wahlärztin
Viktoria Nader, Gynäkologin & Wahlärztin
Viktoria Nader, Gynäkologin & Wahlärztin

Hoher Wahlarztanteil

In Oberösterreich gibt es rund 1.130 Kassenärzte. Darauf kommen circa 1.600 Wahlärzte. In den letzten Jahren hat sich der Anteil an Wahlärzten in vielen Bereichen deutlich erhöht, das geht aus einer Anfragenbeantwortung des Gesundheitsministers Johannes Rauch hervor. Die Entwicklung bei den Dermatologen ist besonders besorgnis­erregend. 2017 gab es 90 Kassen- und 83 Wahl-Hautärzte in Oberösterreich. Heute sind es nur noch 32 Kassen- und 51 Wahlärzte. In anderen Bereichen findet sich zwar glücklicherweise dieser enorme Rückgang an Medizinern nicht, eine Verschiebung von Vertragsärzten hin zu den Privatpraxen ist dennoch feststellbar. Politisch führt das Wahlarztsystem schon seit ­Jahren zu hitzigen Debatten. Einige, wie der oberösterreichische SPÖ-Vorsitzende ­Michael Lindner, haben in der Vergangenheit gefordert, das Wahlarztsystem abzuschaffen. Andere, beispielsweise die Standesvertreter der Ärzte, plädieren dafür, Kassenverträge attraktiver zu gestalten.

Unattraktiver Kassenvertrag

Für Peter Niedermoser, Präsident der ­Ärztekammer Oberösterreich, sind es die Rahmenbedingungen, die es für österreichische Ärzte nicht attraktiv genug machen, sich für einen Kassenvertrag zu bewerben: „Mit ein Grund sind sicher die starren Regelungen, die vorgegeben werden. Die vorherrschende Bürokratie macht Kassenverträge nicht gerade attraktiv.“ Er spricht sich für eine Entbürokratisierung aus. Die Dokumentation bezeichnet er als sinnvoll. Oftmals schießt man aber über das Ziel hinaus. Ein Vorstoß der Ärztekammer ist bei den ärztlichen Hausapotheken zu sehen. Diese würden es für Allgemeinmediziner attraktiv machen, am Land eine Kassenstelle zu übernehmen. Die Ärztekammer sprach sich daher für einen Ausbau dieser Apotheken aus. Niedermoser wünscht sich auch, dass mehr unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit zugelassen werden. „Gerade auf die Wünsche der jungen Kollegen muss mehr eingegangen werden, wie sie sich künftig eine Zusammenarbeit vorstellen.“ 

Die vorherrschende Bürokratie macht Kassenverträge nicht gerade attraktiv.

Peter Niedermoser, Präsident der Ärztekammer OÖ
Peter Niedermoser, Präsident der Ärztekammer OÖ
Peter Niedermoser, Präsident der Ärztekammer OÖ

Die Wahl zum Wahlarzt

Einen fahlen Beigeschmack hinterlässt es, wenn man sich als Patient beim Arztbesuch nicht richtig verstanden fühlt. „Die Kollegen wollen wieder mehr Zeit für ihre Patienten haben“, erklärt Niedermoser, „das wäre auch im Sinne der Prävention, die zudem mittelfristig sehr viel Geld sparen würde.“ Deshalb plädiert er dafür, das Honorarsystem anzupassen und es entsprechend zu vergelten, wenn sich ­Ärzte die nötige Zeit für ihre Patienten nehmen. Auch Viktoria Nader, Gynäkologin und Wahlärztin in einer Gruppenpraxis in Rohrbach, sieht hier einen entscheidenden Vorteil: „Ich schätze es sehr, mir die Zeit nehmen zu können, um den Patientinnen ausreichend zuzuhören.“ Auch das selbstbestimmte Arbeiten mit freier Zeiteinteilung und Gestaltung der Öffnungszeiten ohne Vorgaben der Kasse nennt sie als Vorteile. Warum gerade in der Gynäkologie so viele keinen Kassenvertrag anstreben, erklärt sie unter anderem auch mit dem hohen Frauenanteil unter Gynäkologen: „Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist wichtiger geworden. Hier ist durch die freie Zeiteinteilung das Wahlarztsystem klar im Vorteil.“

Die nächste Mediziner-Generation

Auf die Frage nach möglichen Attrak­tivierungsmaßnahmen verweist die ÖGK auf vertragliche Maßnahmen, die bereits gesetzt wurden. So hat man ­flexible Vertragsmodelle eingeführt wie Jobsharing oder erweiterte Stellvertretungen, um die Kassenarzt-Tätigkeit mit dem Privatleben vereinbar zu machen. Einen besonderen Fokus setzt man auch darauf, junge Ärzte für den Weg zum niedergelassenen Kassenarzt zu begeistern. So fördert man die Lehrpraxisausbildung für Allgemeinmedizin und regional auch in verschiedenen Fachrichtungen, um Turnusärzte mit der Versorgung im Kassenvertragssystem vertraut zu machen. In der Praxis erhöhen laut ÖGK Lehrpraktikanten sogar die Versorgungs­wirksamkeit der Praxis durch ihre Mitarbeit. Und auch im Studium setzt man bereits an. So wurden 50 Stipendien für Medizinstudierende in bestimmten Fächern ausgeschrieben, von denen 48 vergeben werden konnten. Außerdem sollen ab dem Studienjahr 2024/2025 13 Medizinstudienplätze bevorzugt an Studierende vergeben werden. Sechs der 156 Bewerbungen haben die erforderliche ­Quote geschafft. Nach Auskunft der ÖGK wurden die Verträge bereits unterzeichnet. Es wird also auch daran gefeilt, wie man mehr junge Ärzte zum Kassenvertrag bewegen kann, teilweise müssen aber auch neue Stellen geschaffen werden, denn die Bevölkerung in Österreich wächst.

Andreas Huss, stellvertretender Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse, hinterfragte im Juni, inwieweit Krankenhausärzte daneben noch Wahlarztpraxen führen sollten.
Andreas Huss, stellvertretender Obmann der ÖGK, hinterfragte im Juni, inwieweit Krankenhausärzte noch Wahlarztpraxen führen sollten.

Initiative +100

Und da kommt die Initiative +100 ins Spiel. Im Vorjahr hat die Bundesregierung angekündigt, 100 neue Kassenstellen zu schaffen. Dringend benötigten Ärzten aus den Fächern Allgemeinmedizin, Gynäkologie und Kinderheilkunde möchte man den Kassenvertrag mit einem Startbonus von 100.000 Euro noch schmackhafter machen. Die Besetzung läuft allerdings schleppender als von der Politik ursprünglich erhofft. Laut ÖGK wurden bisher 70 der 100 Stellen ausgeschrieben. Für 63 Stellen gab es insgesamt 195 Bewerbungen. Ein Großteil der bereits vergebenen Planstellen soll im Herbst eröffnet werden. Grund dafür ist, dass viele Bewerber erst Praxisräume und Personal suchen müssen, sodass ein unmittelbarer Start nach der Vergabe nicht möglich ist. Die restlichen Stellen sollen noch dieses Jahr ausgeschrieben werden. Für Hausarztpraxen wie in Blumau-Neurißhof bringen neue Kassenstellen derzeit jedoch leider wenig und Initiativen, um Studenten und Ärzte in Ausbildung für Kassenverträge zu begeistern, tragen erst in ein paar Jahren Früchte. Bis dahin bleibt den Gemeindebewohnern wohl nur die Wahl, in welchen Nachbarort sie fahren. Und ob sie bereit sind, ein paar Euro für den Wahlarzt draufzulegen. 

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