Warum japanische Kinder so "brav" sind
Glaubt man dem Philosophen Konfuzius, sind die ersten sieben Jahre eines Menschen die Phase der Unschuld. In dieser Zeit sind Kinder ihm zufolge noch nicht fähig, sich ihres Verstandes zu bedienen. Daher sollten sie in diesem Lebensabschnitt wie kleine Könige verwöhnt und mit Nachsicht erzogen werden, lautet sein Grundsatz. Dieses Verständnis prägt die Erziehung in Asien - besonders in Japan - bis heute. Kinder werden explizit nicht als kleine Erwachsene behandelt, sondern im Sinne des Wortes als unreife Menschen, die noch völlig abhängig von ihrem Umfeld sind.
Brav, nicht unartig!
Westeuropäer, die durch Japan reisen, werden feststellen, dass Kinder auffallend ruhig, angepasst und ausgeglichen auftreten und kaum quengeln oder durch Aufmüpfigkeit auffallen. Auf den ersten Blick scheint der japanische Nachwuchs deutlich braver als Kinder in unseren Breiten zu sein. Früher schrieben Forscher diese Verhaltensunterschiede den Genen zu, heute weiß man, dass es vor allem an den hohen Erwartungen der japanischen Gesellschaft an ihre Mitglieder liegt. Bei der Erziehung ihrer Kinder behalten das Eltern stets im Auge, wie die folgenden gelebten Grundsätze eindrucksvoll zeigen.
1. Die Bedürfnisse des Kindes werden erfüllt
Ein Sprichwort in Japan besagt: "Für ein Kind gibt es niemals Hungersnot." Im übertragenen Sinn trifft das auf so ziemlich alle Lebensbereiche eines japanischen Heranwachsenden zu. Begünstigt wird das durch die in der Regel beengten Wohnverhältnisse. Japanische Häuser sind sehr offen und wandelbar konstruiert, sodass keine räumliche Trennung zwischen Erziehenden und Kindern entsteht, und somit auf die Bedürfnisse des Kindes stets eingegangen werden kann. Rückzugsmöglichkeiten gibt es kaum, die Familie lebt als eine Einheit. Der Familienverband schläft, wohnt und isst im selben Raum. Für etwas Privatsphäre werden meist nur mobile Wände aus Papier aufgestellt. Die Kinder schlafen in unmittelbarer Nähe zur Mutter, das Jüngste direkt auf der Matte nebenan. So ist die Mutter für ein Kind immer greifbar.
Vorerst ist die Umgebung nahezu uneingeschränkt offen, die Wünsche und Bedürfnisse der Kleinen zu erfüllen, denen die uneingeschränkte Aufmerksamkeit ihrer Eltern sicher ist. Um Zuwendung und Aufmerksamkeit brauchen sie daher gar nicht erst zu buhlen. Diese Grundhaltung führt dazu, dass japanische Kinder ruhig und ausgeglichen wirken. Unbändigen Entdeckerdrang sieht man bei ihnen dagegen selten.
2. Kinder stören nicht
Stressgeplagte Eltern hierzulande kennen sie - die entnervten Blicke anderer, wenn das Kind schreit und sich partout nicht beruhigen lassen will. Während die Zahl kinderfreier Hotels und Zonen in Westeuropa steigt, werden in Japan Kinder nicht als störend empfunden - weder innerhalb der Familie noch im öffentlichen Raum. Niemals würden Gäste in einem Restaurant die Augen verdrehen, wenn Kinder Lärm machen. Mit Höflichkeit und Nachsicht wird über das Verhalten hinweggesehen. Ihre Anwesenheit ist ausdrücklich erwünscht, ihr kindliches Verhalten wird nicht nur gebilligt, sondern respektiert.
3. Kinder sind überall mit dabei
Harmonie und Gemeinschaftssinn werden in Japan groß geschrieben - nicht zuletzt infolge der Lehren, die das Land aus seiner Vergangenheit gezogen hat. Für das eigene Überleben in Kriegszeiten war ein guter familiärer, aber auch gesellschaftlicher Zusammenhalt stets unabdingbar. Diese Haltung spiegelt sich auch in der Kindererziehung wider. Damit die Gemeinschaft gestärkt und erhalten bleibt, werden Kinder schon von klein auf überall eingebunden. Das bezieht sich insbesondere auf die vielen zeremoniellen Festlichkeiten und ihre strengen Rituale. Dazu gehören etwa festgelegte Besuche bei der Familie, Gratulations- und Kondolenzbesuche sowie Familienräte. Schon von klein auf lernen sie dadurch, wie wichtig es ist, ein würdiges Mitglied ihrer Familie zu sein. Aus japanischer Sicht der beste Weg, um später den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden.
4. Bestrafungen sind unerwünscht
Benimmt sich ein japanisches Kind dennoch einmal daneben, beweisen seine Eltern eine Engelsgeduld, die gewohnte Ordung wieder herzustellen. Gutes Zureden und das Erzählen traditioneller Geschichten sollen den Kleinen Werte und erwünschtes Verhalten auf unterhaltsame Art und Weise näherbringen. Wirkungsvoll erweist es sich dabei, auf die bösen Geister zu verweisen, die in der japanischen Literatur stets das Böse und Schlechte bestrafen. Zornausbrüche, Schläge oder Bestrafungen gegenüber Kindern sind in Japan weitestgehend unüblich. Der Auffassung der japanischen Gesellschaft nach sind Gefühlsausbrüche Ausdruck von Unreife und Erniedrigung und daher verpönt.
Orientierung und Sicherheit
Die Erwartungen, denen japanische Kinder in der Familie gerecht werden müssen, finden sie gleichermaßen auch außerhalb der eigenen vier Wände vor. Überall gelten die gleichen Regeln, was die persönliche Freiheit, sich auszudrücken, zwar einschränkt, gleichzeitig aber auch Orientierung und Sicherheit bietet.
Zur Autorin
Sie schwärmen für Asien? Dann haben Sie etwas mit Passion Author Barbara Kluibenschädl gemeinsam. Die Tirolerin hat ein Faible für asiatische Kultur und Kulinarik, von denen auch ihre Texte, mit denen sie www.weekend.at bereichert, überwiegend handeln.