Das Gedächtnis lässt sich trainieren wie die Muskeln und die Ausdauer
„Vergessen ist die Regel und die Erinnerung die Ausnahme“, sagt der niederländische Psychologe Douwe Draaisma in seinem Bestseller „Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird“. Draaisma (geb. 1953) hat sich in mehreren Büchern mit dem Gedächtnis im Alter befasst. Er wird darin nicht müde zu betonen, dass nicht das Merken, sondern das Vergessen die Hauptfunktion des Gedächtnisses ist und dass Menschen, die nicht vergessen können, rein gar nicht zu beneiden sind.
Die 1965 geborene US-Amerikanerin Jill Price etwa leidet am „hyperthymestischen Syndrom“, einer sehr seltenen Gehirnstörung. Sie merkt sich seit einem Tag im Februar 1980 alles, was sie in jeder Minute seither bewusst erlebt hat. Das Fernsehprogramm, das Wetter, den Inhalt aller Konversationen, die Zeitungsartikel, die sie gelesen hat – einfach alles. Sie kann kaum noch logisch denken, weil sie von Erinnerungen regelrecht überflutet wird. Jill Price ist arbeitsunfähig, weil ihr Gehirn überlastet ist.
Alters-Vergesslichkeit
Gesunde Menschen haben mit zunehmendem Alter das entgegengesetzte Problem. Ihr Gedächtnis lässt nach. Dass man sich Zahlen, Termine und Namen mit den Jahren eher schlechter merkt, werden viele Menschen bestätigen. Douwe Draaisma hat auch dafür eine Erklärung: Menschen würden erst seit etwa 100 Jahren massenhaft ein hohes Alter bis 70 Jahren und darüber hinaus erreichen. Es sei gut möglich, dass das Denkorgan evolutionär nicht darauf eingestellt sei, sich lange zu erinnern. Das mag so sein, aber es auch wahr, dass man gegen die „Alters-Vergesslichkeit“ etwas tun kann. Die Studie „Cogito“ des deutschen Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung hat 2013 gezeigt, dass sich die geistige Leistungsfähigkeit grundsätzlich bis ins fortgeschrittene Alter erhalten lässt. Das Gedächtnis der älteren Versuchsteilnehmer funktionierte sogar besser als jenes der jüngeren.
Die Fähigkeit, sich Dinge zu merken, lässt sich genauso trainieren wie die Muskeln und das Herz-Kreislaufsystem. Dazu muss man wissen, dass unser Gedächtnis – bildlich gesehen - aus drei Teilen besteht: dem Kurzzeitgedächtnis, dem Arbeitsgedächtnis und dem Langzeitgedächtnis. Ersteres hält aktuelle Informationen in unserem Gehirn fest, bevor sie einige Sekunden später von neuen Eindrücken gelöscht werden: die Nummer, die man ins Mobiltelefon eintippt, den Namen, den man gerade hört und niederschreibt und die Textzeile, die man liest und versteht, bevor die nächste drankommt. Nur, wenn ein Eindruck vollkommen neu ist und große Emotionen auslöst, wird er ins Langzeitgedächtnis verschoben.
Analysieren & Verknüpfen
Im Arbeitsgedächtnis wird eine Information analysiert, bewertet und verknüpft. Je intensiver diese Arbeit erfolgt, desto leichter ist es, die Information im Langzeitgedächtnis abzuspeichern. Die Gehirnforschung geht davon aus, dass die Speicherfähigkeit dieses „Archivs“ potentiell unbegrenzt ist. Die verblüffenden Leistungen von Gedächtnissportlern legen davon ein beredtes Zeugnis ab, wie auch Schauspieler, die vor Jahren gelernte Rollentexte immer wieder abrufen können. Es geht beim Gedächtnistraining darum, das „Arbeitsgedächtnis“ zu aktivieren. Gehirnforscher weisen immer wieder darauf hin, dass das reine Auswendiglernen – etwa von Zahlen – nicht ausreicht. Auch das immer wieder empfohlene Kreuzworträtsellösen trainiert das Gedächtnis nicht. Besser ist da schon Sudoku, weil die sich ändernden Zahlenkombinationen die geistige Flexibilität herausfordern.
Kreativität ist gefragt
Darum geht es nämlich. Je intensiver und kreativer eine Information bearbeitet wird, desto besser wird sie gespeichert. Zum Beispiel merkt man sich Vokabeln einer Fremdsprache nachhaltiger, wenn man sich die üblichen Eselsbrücken der klassischen Mnemotechnik baut. Völlig neue Wörter lassen sich mit visuellen oder akustischen Vorstellungen assoziieren, die auch absurd oder spaßig sein dürfen. Selbstverständlich spielt die Motivation eine große Rolle. Je mehr Nutzen das Gelernte bringt, desto lieber macht das Gehirn mit. So wird man seine Spanisch-Vokabeln besser memorieren, wenn man sie gleicht im nächsten Urlaub verwenden wird. Wenn man endlich das tut, was man insgeheim immer schon tun wollte, aber sich nie traute, wird das Hirn zu Hochform anlaufen.
Mentaltrainer empfehlen deshalb immer wieder – quasi als Auflockerungsübung – mal einen anderen Weg zur Arbeit zu nehmen, sich die Zähne mal nicht mit der Schreibhand zu putzen oder Wörter von rechts nach links zu lesen. Auch Sport hilft der Denkfähigkeit und damit dem Erinnern auf die Sprünge. In einem Experiment mussten Versuchspersonen auf Ergometern Denksportaufgaben lösen, die immer schwieriger wurden. Die an Schreibtischen sitzende Vergleichsgruppe hatte signifikant größere Schwierigkeiten damit. Die biologische Erklärung dafür lautet, dass bei sportlicher Aktivität das Gehirn besser durchblutet wird und außerdem Hormone ausgeschüttet werden, die dazu betragen, die Zellen besser miteinander zu vernetzen.