Disney muss sich neu erfinden
Nach 15 Jahren als Disney-Boss ging Bob Iger zum Abschied noch einmal dorthin, wo seine Karriere 1973 als Wetterfrosch begonnen hatte: ins TV-Studio. In einem unangekündigten Starauftritt im Februar 2020 präsentierte der Topmanager in der morgendlichen Nachrichtensendung von ABC das Wetter. „Es fällt leichter Regen“, prophezeite er den Zuschauern, „was aber nur der Auftakt zu einem großen Sturm ist.“ Der fast Siebzigjährige konnte nicht ahnen, dass die Sturmwarnung auch seiner Disney-Company galt. Er hatte mit Bob Chapek seinen Nachfolger selbst ausgewählt und kassierte zwei Millionen Dollar jährlich für einen bis 2026 laufenden Beratervertrag. Nun musste Iger aus dem Ruhestand zurück auf den Chefsessel. Seit November ist der alte Disney-Chef wieder der neue. Chapek (62), ebenfalls ein langjähriger Disney-Haudegen, wurde nach einem Aktionärsaufstand im November des Vorjahres als CEO abgesetzt. Hauptgrund für den Rauswurf: Der Streamingkanal Disney+ hatte im letzten Quartal 1,5 Milliarden Dollar Verluste angehäuft, doppelt so viel wie im Jahr davor. Der Umbruch in der Medienbranche rüttelt den Konzern durch und schafft Ungewissheit, was die künftige Rentabilität des riesigen Unterhaltungsportfolios betrifft. Trotz des rasanten Wachstums im Streamingbereich „funktioniert das neue Modell des digitalen Vertriebs wirtschaftlich ganz offensichtlich nicht, aber der Geist ist nun mal aus der Flasche“, formuliert es die US-Branchenzeitschrift „Variety“. Anfang des Jahres lag die Disney-Aktie fast 60 Prozent unter ihrem Höchststand vom März 2021. Ein ähnliches Minus an den Börsen konnte man auch bei Netflix & Co beobachten.
Von Donald Duck bis Indiana Jones
Man muss schon weit in der 100-jährigen Geschichte des 1923 von den Brüdern Walt und Roy Disney gegründeten Unternehmens zurückblicken, um auf ein Vorstandsdrama in dieser Dimension zu stoßen. Konkret ins Jahr 2004, als Michael Eisner (81) nach einer vom Neffen des Firmengründers angeführten „Rettet Disney“-Kampagne als Vorstandsvorsitzender abtreten musste. Eisner war ein Superstar der Wirtschaft. Er hatte 1984 mit seinem Einzug in die Vorstandsetage den verstaubten Konzern vor dem Ausverkauf gerettet und mit Filmhits („König der Löwen“) sowie mit Zukäufen (z. B. Capital Cities/ABC Gruppe) wieder zu einem innovativen Powerhouse gemacht. Am Ende war er aber selbstgefällig geworden, vergraulte die Kreativen im Haus und beging zunehmend Managementfehler, die zu sinkenden Betriebsgewinnen führten; das Milliardengrab EuroDisney (heute: Disneyland Paris) war das prominenteste Beispiel in der Negativbilanz. 2005 folgte ihm Vorstandskollege Bob Iger als CEO nach, der die Kernmarke Walt Disney stärkte, indem er beispielsweise Disneys weltweiten Filmverleih Buena Vista International in Walt Disney Motion Pictures umfirmierte. Unter seiner Ägide wuchs das „Magic Kingdom“ durch spektakuläre Akquisitionen. 2006 kaufte er zunächst Pixar Animation („Toy Story“, „Findet Nemo“), gefolgt von Marvel Entertainment (2009) und Lucas Arts (2012). Damit sind neben Micky Maus, Donald Duck & Co nun auch die Marvel-Superhelden, Star Wars oder Indiana Jones Teil des Disney-Universums. Der aufsehenerregendste Deal war der Kauf des größten Stücks von Rupert Murdochs 21st Century Fox (jetzt: 20th Century Studios) im Jahr 2019. Damit wurde Disney zum größten Filmstudio Hollywoods, das die Kinokassen weltweit dominiert, zuletzt mit der Fortsetzung von „Avatar“, dem kommerziell erfolgreichsten Film aller Zeiten. Der Deal ebnete auch den Vorstoß in das Streaminggeschäft. Disney+ hat heute (mit Hulu und ESPN+ in den USA) mehr Streaming-Abos als jedes andere Unternehmen.
Brutaler Machtkampf
Doch Disney ist mehr als nur ein Unternehmen, es ist „wahrscheinlich die erfolgreichste Kulturfabrik, die die Welt je gesehen hat“, schreibt der „Economist“. Im Zentrum des vertikal integrierten Konzerns stehen der kreative Output und unzählige Einnahmeströme für geistiges Eigentum, die bei allen Sparten ineinandergreifen und sich gegenseitig verstärken. Walt Disney nannte seine Markenphilosophie „Synergy Map“. Nach dem ersten Micky-Maus-Zeichentrickfilm „Steamboat Willie“ im Jahr 1928 blieb die Maus zentrale Figur für das globale Mediengeschäft. Sie tauchte in Themenparks, auf Merchandising-Artikeln im Einzelhandel und später in Serien in TV-Netzwerken auf. Im großen Stil wird das aktuell beispielsweise mit Star Wars durchgespielt. Neue Star-Wars-Franchise-Produktionen wie „Das Buch von Boba Fett“, „Obi-Wan Kenobi“ oder „The Mandalorian“ wurden kreiert. Das trieb auch die Produktionskosten in ungeahnte Höhen. Um Abonnenten zu gewinnen, haben die größten Hollywoodstudios ihre gemeinsamen Ausgaben für Inhalte seit 2019 um 50 Prozent erhöht. Ein brutaler Wettkampf, der auch auf Kosten der Qualität ging. Die Folgen: Fast fertig gedrehte Filme wie „Batgirl“ von Warner Bros Discovery wurden auf Eis gelegt, Netflix strich reihenweise Serienfortsetzungen und Disneys Streamingsparte verliert immer noch eine Milliarde Dollar pro Quartal. Im Februar kündigte Iger an, 7000 Arbeitsplätze zu streichen, was knapp vier Prozent der Belegschaft entspricht. Die weitreichende Umstrukturierung soll zu Kosteneinsparungen von 5,5 Milliarden Dollar führen.
Die dunkle Seite der Macht
Disney hat zudem noch eine Nettoverschuldung von 37 Mrd. Dollar aufzuarbeiten, ein Überbleibsel aus dem Kauf von 21st Century Fox, der nach Meinung kritischer Aktionäre überteuert war. Die „Dunkle Seite der Macht“ sind für Disney die großen Tech-Konzerne. Während die Nerds aus dem Silicon Valley es nicht nötig haben, mit Streaming Geld zu verdienen, schwächelt bei Disney zusätzlich das Geschäft mit den Themenparks. In Zeiten hoher Inflation und des wirtschaftlichen Abschwungs können sich viele Familien diesen Spaß nicht mehr leisten. Auch die Milliardeneinnahmen aus den TV-Kabelnetzwerken sind für Disney kein zukunftssicheres Asset mehr. Im Westen schwindet zudem die Macht des Kinos und des klassischen Fernsehens. Während ältere Semester laut einer Umfrage von Deloitte das Fernsehen als ihre liebste Art der Heimunterhaltung bezeichnen, reihen es die unter 25-Jährigen an die letzte Stelle. Ihr größtes Hobby ist mit einigem Abstand das Videospielen. Ein Bereich, für den Disney nichts im Angebot hat. Dafür plant Microsoft Activision-Blizzard um rund 70 Milliarden Dollar samt den Spielehits „Call of Duty“ und „Candy Crush“ zu übernehmen. Amazon war der erste Tech-Riese, der sich mit Metro-Goldwyn-Mayer samt den James-Bond-Inhalten ein Hollywoodstudio einverleibte. Spekulationen, dass Apple und Disney fusionieren könnten, sind angesichts des technologischen Umbruchs, der tektonischen Verschiebungen in der Branche und der atemberaubenden Konsolidierung des US-Medienmarktes nicht ganz abwegig. Vielleicht ist die Vorbereitung so einer Megafusion die eigentliche Mission von Bob Iger in den kommenden beiden Jahren.