Wendepunkt: die Ukraine ist jetzt der Angreifer
Oberst Berthold Sandtner hat eine Generalstabsausbildung, war im Kosovo im Auslandseinsatz und kommandierte ein Aufklärungs- und Artilleriebataillon in Allentsteig. Derzeit ist Sandtner Referatsleiter am Institut für „Höhere Militärische Führung“ an der Landesverteidigungsakademie in Wien. Dass es in der russischen Armee derzeit eine „manifeste Führungsschwäche“ gebe, sei ganz offenkundig, sagte Sandtner gestern in der der ZIB 2. Die Moral der schlecht geführten russischen Soldaten sei nach sieben Monaten im ununterbrochenen Einsatz am Boden.
Kein Rückzug, sondern Flucht
Im Osten – also im Gebiet der ukrainischen Offensive der vergangenen Tage – habe die russische Armeeführung Freiwilligenbataillone eingesetzt, bestehend zum Teil aus ehemaligen Obdachlosen und Strafgefangenen. Diese im Schnellverfahren ausgebildeten Soldaten hätten sich nach Beginn der Angriffe sofort abgesetzt, teilweise in gestohlenen Zivilfahrzeugen. Sandtner: „Das war kein Rückzug, das war eine Flucht“.
Pattsituation aufgelöst
Ob nun der große Wendepunkt des Krieges gekommen sei, wurde Sandtner von Armin Wolf gefragt. Die Lage habe sich insofern gewendet, als die Ukraine eine Pattsituation zu ihren Gunsten habe lösen können, meinte der Oberst. „Die Initiative ist jetzt zur Ukraine übergegangen, vom Angegriffenen wurde sie zum Angreifer.“ Damit sei aber noch kein Ende des Krieges absehbar. „Ich halte es für unmöglich, die Ukraine bis zum Winter zu befreien, aber die Gebietsgewinne ermöglichen strategische Vorteile, die man ausbauen kann.“ Ohne die Waffenlieferungen aus dem Westen hätte die Offensive der ukrainischen Armee nicht so erfolgreich sein können, so Sandtner. Eine wesentliche Rolle habe das weitreichende Raketensystem „HIMARS“ der USA geführt, mit der die russische Logistik gestört worden sei. Und auch ohne gepanzerte und geschützte Mannschaftstransporter aus dem Westen hätte die Infanterie nie so weit vorrücken können.