Grey Divorce: Trennung in der Lebensmitte
In den letzten Jahren hat sich ein neues Phänomen in der Welt der Beziehungen und der Ehe entwickelt – die "graue Scheidung". Dieser Begriff umschreibt die offizielle Trennung von Tisch und Bett bei Menschen, die den 50. Geburtstag schon längst hinter sich gebracht haben.
Während die Vorstellung, dass Paare nach jahrzehntelanger Ehe auseinandergehen, für manche überraschend sein mag, sind Beziehungsforscher längst den dahinter liegenden Erklärungsmustern auf der Spur. Psychologe und Coach Roman Braun erklärt im Gespräch mit weekend.atHintergründe und liefert Ratschläge zum Umgang mit der ganz besonders herausfordernden Trennung in der Lebensmitte.
Soziale und kulturelle Veränderungen
Einer der Hauptfaktoren, die zum Anstieg der Grey Divorce-Rate beitragen, ist die Veränderung der sozialen Akzeptanz von Scheidung und die Neudefinition von Geschlechterrollen. "In früheren Generationen wurden Paare oft durch sozialen und religiösen Druck gezwungen, in unglücklichen Ehen zu verharren", so Braun. Heute hingegen fühlten sich Paare freier, ihre Entscheidung zu treffen, sich zu trennen, wenn die Ehe nicht mehr erfüllend ist. Diese veränderte soziale Dynamik eröffnet mehr Freiheit, birgt aber auch neue Herausforderungen.
Psychologische Herausforderungen
Eine Scheidung im fortgeschrittenen Alter kann erhebliche psychologische Herausforderungen mit sich bringen. Der erhöhte Stresslevel, die Gefahr von Depressionen und physische Gesundheitsprobleme sind einige der möglichen Konsequenzen. "Zudem stehen erwachsene Kinder oft vor emotionalen Herausforderungen, wenn sie die Trennung ihrer Eltern miterleben und ihre eigenen Familienstrukturen anpassen müssen", so der Experte.
Motive für die späte Scheidung
Während bei jüngeren Paaren finanzielle Instabilität und Untreue oft Gründe für eine Scheidung sind, unterscheiden sich die Motive älterer Paare. Sie trennen sich oft aufgrund von emotionalen und persönlichen Differenzen, wie dem "Auseinanderleben". Braun: "Nach Jahrzehnten der Ehe kann es schwierig sein, sich weiterzuentwickeln und gemeinsame Interessen zu finden."
Finanzielle Aspekte
Die finanzielle Dimension einer Scheidung im Alter erweist sich aufgrund der meist gemeinsamen Vermögensgeschichte als besonders komplex: Altersvorsorge, Besitzaufteilung und Unterhaltszahlungen sind entscheidende Faktoren, die berücksichtigt werden müssen. "Eine frühzeitige finanzielle Beratung ist von großer Bedeutung, um den Übergang zu erleichtern", sagt der Experte.
Soziale Auswirkungen
Auch die sozialen Auswirkungen einer Grey Divorce sind vielfältig. Braun: "Neue Partnerschaften sind oft schwieriger zu etablieren und die Beziehungen zu erwachsenen Kindern und Enkelkindern können belastet sein. Das soziale Netzwerk und die Familienstrukturen verändern sich erheblich, was Anpassung erfordert."
Psychologische Unterstützungsstrategien
Eine ganzheitliche psychologische Unterstützung ist während dieses Prozesses von entscheidender Bedeutung. Braun empfiehlt, die folgenden fünf Phasen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Phase 1: Erstbewertung und Zielsetzung
- Diagnostische Gespräche: Erfassung der emotionalen und psychologischen Zustände der Betroffenen.
- Zielsetzung: Klare Ziele für den Therapieprozess festlegen, zum Besipiel Stressbewältigung, emotionale Stabilität.
Phase 2: Emotionaler Support und Stressbewältigung
- Coaching: Identifikation und Umstrukturierung negativer Gedankenmuster.
- Achtsamkeitstraining: Techniken zur Stressreduktion und Verbesserung der emotionalen Regulation.
Phase 3: Kommunikationsfähigkeiten und Konfliktlösung
- Kommunikationstraining: Verbesserung der Kommunikationsfähigkeiten, speziell in Bezug auf die Interaktion mit dem Ex-Partner und erwachsenen Kindern.
- Mediation: Unterstützung bei der Lösung von Konflikten, insbesondere bei finanziellen und familiären Angelegenheiten.
Phase 4: Finanzielle und soziale Anpassung
- Finanzielle Beratung: Integration einer finanziellen Beratung, um den Übergang zu erleichtern.
- Soziale Unterstützung: Aufbau eines neuen sozialen Netzwerks und Umgang mit der Veränderung bestehender Beziehungen.
Phase 5: Abschluss und Nachsorge
- Erfolgskontrolle: Überprüfung der erreichten Ziele und Anpassung der Strategien für die Zukunft.
- Nachsorge: Regelmäßige Follow-up-Sitzungen zur Überwachung des Fortschritts und zur Anpassung der Strategien bei Bedarf.
"Die steigende Rate von Grey Divorce ist ein komplexes soziales Phänomen, das psychologische Unterstützung erfordert, um die Betroffenen bei der Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen zu unterstützen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir diese Problematik aus sozialer und psychologischer Perspektive verstehen, um adäquate Unterstützung bieten zu können und die betroffenen Menschen auf ihrem Weg zu einem neuen Lebensabschnitt zu begleiten", so Braun abschließend.
Zur Person
Dr. Roman Braun ist Geschäftsführer von Trinergy International, Doktor der Psychologie, NLP-Master-Trainer, Master-Coach der ICF, zertifizierter Lebens- und Sozialberater und Bestseller-Autor. Er leitet akademische Coaching-Ausbildungen.