Hans Jörg Schelling im Gesundheits-Talk
Weekend: Welche Entwicklungen werden unser Gesundheitssystem in Zukunft prägen?
Hans Jörg Schelling: Der rasante medizinische Fortschritt einerseits sowie eine stetig älterwerdende Bevölkerung andererseits. Neue, verbesserte Medikamente und Therapien könnten etwa so manche Krankheit komplett verschwinden lassen und zudem bei effizientem Einsatz zu einer deutlichen Senkung der Behandlungskosten beitragen. Ich denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Herstellung von Nierentransplantaten aus körpereigenen Stammzellen, die keine Abstoßungsprozesse mehr hervorrufen und einem Dialysepatienten Jahre der aufwendigen Therapie ersparen könnten. Der starke Zuwachs in der Gruppe der Senioren zieht wiederum einen höheren Bedarf an Pflegekapazitäten nach sich. Vor allem vor dem Hintergrund eines stetig steigenden Lohnniveaus in den Herkunftsländern des Großteils unserer Pflegekräfte, das zukünftig dazu beitragen wird, dass die meisten von ihnen eine Anstellung in ihrer Heimat einer in Österreich vorziehen werden.
Weekend: Wie muss diesen veränderten Bedingungen Rechnung getragen werden?
Hans Jörg Schelling: Zu allererst müssen die Wünsche und das Wohl des Patienten in den Fokus gerückt werden. Die Frage nach der Sicherstellung einer optimalen Behandlung für alle Patienten muss somit eine höhere Priorität genießen, als die nach den dafür anfallenden Kosten. Ferner gilt es, einen Paradigmenwechsel weg von der Reparations- hin zu einer Präventionsmedizin vorzunehmen. Dafür müssen die Menschen dazu animiert werden, beispielsweise über eine bewusste Ernährung sowie regelmäßige Bewegung an der frischen Luft, einen Beitrag zu ihrer eigenen Gesundheit zu leisten, um möglichst gesund zu altern. Ergänzend dazu ist eine Präventionsausbildung für Ärzte sowie eine finanzielle Vergütung ihrer Präventionsarbeit vonnöten. Außerdem ist es unerlässlich, den Pflegeberuf attraktiver zu gestalten und Angehörige dazu zu motivieren, pflegebedürftige Menschen so lange als möglich zu Hause zu betreuen.
Weekend: Welchen Beitrag leistet das Praevenire-Weißbuch in diesem Zusammenhang?
Hans Jörg Schelling: Das Weißbuch ist das Ergebnis eines intensiven und offen geführten Diskurses, in den sowohl Interessen- und Standesvertreter als auch die Pharmaindustrie eingebunden waren. Es enthält zahlreiche pragmatische Vorschläge, um unser Gesundheitssystem qualitativ und finanziell zukunftsfit zu machen: etwa ein temporäres Fixgehalt für Ärzte, die eine Landarztpraxis übernehmen, die Anrechnung des Zivildienstes auf eine Ausbildung für einen Pflegeberuf, einen bezahlten Urlaub für pflegende Angehörige sowie den Ausbau der Telemedizin und den Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Diagnose.