Wachstumsrausch mit 0,0 Promille
Der Schriftsteller Otto Zernatto, ein guter Freund Leopold Figls, meinte einst: „Der Poldi soff für Österreich.“ Es ist ein Teil der österreichischen Geschichte, dass es der Trinkfestigkeit des damaligen Außenministers und Exkanzlers Leopold Figl zu verdanken sei, dass am 15. Mai 1955 der Staatsvertrag unterzeichnet wurde. Als Beleg dafür, Figl durfte die historischen Worte „Österreich ist frei!“ verkünden. Legendenumwoben sind die vielen Nächte der Verhandlungen mit den Sowjets, die Figl mutmaßlich unter den Tisch getrunken habe. Storytelling für den Stellenwert von Alkohol in Österreich. Mit 11,1 Litern reinem Alkohol pro Kopf liegt Österreich im OECD-Spitzenfeld (Rang sechs, Durchschnitt: 8,6 Liter). Wir trinken also, vom Baby bis zum Greis, rund 555 Halbe Bier pro Jahr. Spitzenreiter ist Lettland mit 12,2 Litern. „Weltmeister“ dürfte Belarus mit rund 19 Litern sein (genaue Daten sind in der Diktatur schwer zu erheben). Doch die Zeiten werden nüchterner: Der globale Anteil an konsumiertem Reinalkohol sinkt, und zwar um 2,5 Liter in den letzten sieben Jahren.
Von Yolo zu Nolo
Befeuert wird das von aktuellen Trends, die allesamt Anglizismen haben: Es ist von „Sober curious“, „NoLo“ (kein oder wenig Alkohol), „Dry January“, oder „New Sobriety“, der neuen Nüchternheit, die Rede. Treiber dieser Entwicklung ist die junge Generation. 2004 griffen 21 Prozent der Zwölf- bis 17-Jährigen in Österreich mindestens einmal pro Woche zur Flasche. 2021 nur noch 9 Prozent. Bei 18- bis 25-Jährigen sank der Wert von 44 auf 32 Prozent. Ein Trend, der sich langsam, aber sicher im Handel niederschlägt. Trendsetter ist die „Einstiegsdroge“ Bier. Alleine in Deutschland gibt es mittlerweile 700 verschiedene alkoholfreie Biere. Wie man aus einem ehemals verstaubten Getränk eine Lifestylemarke aufbauen kann, zeigt die 2017 gegründete US-Brauerei „Athletic Brewing“. Bill Shufelt gründete mit einem Freund, der ausgerechnet John „Johnnie“ Walker heißt, das Unternehmen, das 2022 auf Platz 26 der 5.000 schnellst wachsenden Unternehmen der USA gerankt wurde. Es ist die erste rein alkoholfreie Brauerei der Welt. Zielgruppe: die gesundheitsbewussten Jungen, denen Säfte und Mineralwasser zu langweilig wurden. Dank Athletic Brewing wurde alkoholfreies Bier in den USA cool. In den sieben Jahren seit der Gründung gelang es, den Umsatz von null auf gigantische 500 Millionen US-Dollar zu steigern. Das Ziel der nächsten zwei Jahre ist es, die Milliarde zu knacken. Gelingen soll dies mit Innovationen wie der „25-Kalorien- Halben“, etwa ein Neuntel der Kalorienlast eines vergleichbaren Vollbiers. Weltweit werden die Produkte aus San Diego in mittlerweile 10.000 Stores angeboten.
Das etwas andere „Freibier“
Auch im Land des „Biertrinker-Vizeweltmeisters“ Österreich kann man „ohne Umdrehungen“ erfolgreich sein, wie es die Brauerei Schloss Eggenberg – offizielle Brauerei der Kulturhauptstadt 2024 – vorexerziert. Das Eggenberger „Freibier“ ist 2023 zum zweiten Mal zum besten alkoholfreien Bier Europas gewählt worden. Während der Anteil an alkoholfreiem Bier in Österreich bei 3 Prozent liegt, ist er in der Vorchdorfer Brauerei doppelt so hoch. Trinken junge Menschen also wirklich weniger? Für Hubert Stöhr, Geschäftsführer der Brauerei, lässt sich das nicht verallgemeinern: „Es gibt zwar ein gewisses Stadt-Land-Gefälle, doch die Veränderung im Konsumverhalten ist auch für uns wahrnehmbar.“ Die Brauerei hat bereits eine über 40-jährige Tradition bei alkoholfreien Bieren. Deren „Freibier“ liegt heute mehr denn je im Trend und ist die am stärksten wachsende Biersorte im Sortiment. „Dass wir als kleiner Underdog international überzeugen können, ist schon cool.“
Nüchtern betrachtet, liegt nüchtern im Trend
Doch auch jenseits des Biergenusses folgen nüchterne Fakten: Wer sich keiner Rechtfertigung aussetzen möchte, alko- holfrei zu trinken, der kann dies mit Mocktails tun. „To mock“ bedeutet im Englischen „etwas vortäuschen“. Ob ein buntes Getränk mit schönen Schirmchen und Obstdeko Alkohol enthält oder nicht, lässt sich erst nach einigen genossenen Gläsern feststellen. Sie hören auf die Namen „Virgin Mary“, „Safer Sex on the Beach“ oder „Stehaufmännchen“. Der Trend hat natürlich ebenso einen Anglizismus: „Mindful Drinking“. Das Angebot an dazu benötigten alkoholfreien Spirituosen steigt rasant. Wobei „alkoholfreie Spirituose“ ein Oxymoron ist, denn als Spirituose wird ein Getränk nur dann bezeichnet, wenn es mehr als 15 Volumprozent Alkohol hat.
Mit Gartenkräutern zum Trendsetter
Die Herstellung ist komplex. Die Aromen der Pflanzen- und Kräuteressenzen lösen sich normalerweise im Alkohol, der ist der wichtigste Geschmacksträger. Wird er entzogen, fehlen die typischen Geschmacksstoffe. Dennoch gelingt es einigen Herstellern mittlerweile, den Geschmack vorzutäuschen, also zu „mock(en)“. Der Brite Ben Branson fand ein 300 Jahre altes Rezeptbuch, in dem beschrieben wurde, wie man pflanzliche Arzneimittel gänzlich ohne alkoholisches Destillat herstellen konnte. Branson tüftelte mit Gartenkräutern und Mini-Destillerie und gründete schließlich 2015 Seedlip, einen der heutigen Marktführer bei alkoholfreien „Spirituosen“. 2019 folgte das Hamburger Startup Undone, das alkoholfreie Rum-, Gin-, Whiskey- oder Wermutvarianten herstellt. Undone hat dabei eine Mission: Durch alkoholfreie „Spirituosen“ soll der weltweite Alkoholkonsum um 20 Prozent gesenkt werden.
Globale Player analysieren nüchtern
Der Erfolg von Seedlip, Undone und anderen kleinen Unternehmen in diesem Segment blieb auch den großen Konzernen nicht verborgen. Der Global Player Diageo (Gordon’s Gin, Baileys, Captain Morgen, Tequila José Cuervo, Wodka Smirnoff) ließ das Interesse in Form von Marktforschung abtesten. Demnach wünschen sich 61 Prozent der Briten eine breitere Auswahl an Mocktails. 83 Prozent der einflussreichsten Barmanager in L.A. sehen laut Diageo-Studie eine explodierende Nachfrage an alkoholfreien Alternativen. Diageo reagierte und brachte ein promillefreies Feuerwerk an Konzernmarken auf den Markt: Guinness 0.0, Gordons 0.0 oder Captain Morgan Spiced Gold 0.0. Auch der Bacardi-Konzern erkannte den Trend und brachte 2022 alkoholfreie Varianten seiner Marke Martini auf den Markt. Bacardi prognostiziert, dass der Umsatz im Jahr 2024 fünfmal so hoch liegen wird wie zur Markteinführung. Ebenfalls im Kommen sind „NoLo“ (No or Low Alcohol)-Varianten bei Wein, Sekt und Champagner. Das Deutsche Weininstitut schätzt den Marktanteil zwar bei nur einem Prozent, 2023 stieg der Absatz aber um 18 Prozent kräftig an. Das liegt vor allem an der stark steigenden Qualität, die durch technische Errungenschaften der letzten Jahre möglich wurde.
Hatte Leopold Figl unrecht?
Zurück zu Leopold Figl: Müssten wir heute einen Staatsvertrag mit Russland verhandeln – was wir hoffentlich nie müssen –, könnte das schwierig werden, denn Vladimir Putin lebt abstinent. Dem ehemaligen „Trinkerweltmeister“ Russland, mit einem Verbrauch von über 19 Litern Reinalkohol pro Kopf vor der Wende, verabreichte Mikhail Gorbachev mit seiner Anti-Wodka-Kampagne eine massive „Entziehungskur“. Vor dem Ukraine-Krieg lag der Pro-Kopf-Verbrauch mit 10,5 Litern reinem Alkohol sogar unter dem von Österreich. Seitdem entkoppelt sich Russland wieder vom globalen Trend. Für den Rest der Welt scheint Leopold Figls (angebliches) Zitat „Wenn der Geist was leisten soll, braucht er Alkohol“ aus der Zeit gefallen. Doch vielleicht werden in ferner Zeit seine Nachfolger „Österreich ist alkoholfrei“ verkünden.