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Europa: Vom Zero zum Hero

08.01.2025 um 11:32, Jürgen Philipp
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Aus den einstigen „Armenhäusern“ Europas sind Musterschüler geworden. Spanien, Irland, Portugal und Polen sind hoch erfolgreich. Was lässt sich daraus lernen?

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Jack Chambers hat ein Problem: ein Problem, das seine EU-Amtskollegen gerne hätten. Der irische Finanzminister verzeichnet einen Haushaltsüberschuss von rund 8,6 Milliarden Euro. Die Wirtschaft wuchs fünfmal so schnell als erwartet, dennoch ist man sich uneins. Soll man das Geld investieren oder doch sparen? Ein „Luxusproblem“, das auch sein portugiesischer Kollege Joaquim Miranda Sarmento kennt. Sarmento, Jahrgang 1973, war noch in der Diktatur geboren. Seit 50 Jahren ist der Staat nun eine Demokratie und verzeichnete in dieser Zeit noch nie einen höheren Haushaltsüberschuss – genau gesagt 3,2 Milliarden Euro. Vor 13 Jahren war der Staat noch bankrott: IWF und EU warfen Rettungsschirme aus. Die Nachbarn auf der Iberischen Halbinsel haben Ähnliches zu berichten. Spaniens Wirtschaft wächst und wächst. 2023 sechs Mal so schnell wie der Schnitt in der Euro-Zone. 2024 immerhin noch drei Mal so schnell. Und dann wäre da noch ein weiteres ehe-maliges Armenhaus Europas: Das polnische BIP stieg seit dem Zusammenbruch des Ostblocks von 1.500 auf 23.400 USD. Und die Wirtschaft wächst weiter. 2024 wird mit einem Gesamtwachstum von bis zu vier Prozent gerechnet. Was machen diese Länder anders?

Irlands reiche Onkel

Vorweg: Es gibt keinen gemeinsamen Plan oder Analogien zwischen den Staaten. Jeder fand seinen eigenen Weg – und spezielle Voraussetzungen. So etwa Irland. Um den heutigen Boom zu verstehen, muss man ins Jahr 1973 zurückgehen. Damals trat die noch landwirtschaftlich geprägte grüne Insel der EG bei. Die ersten Jahre waren alles andere als Erfolg versprechend. Der Öl-Schock traf die Wirtschaft härter als andere. Massenarbeitslosigkeit und eine weitere Auswanderungswelle nach den historischen Hungersnöten Ende bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts waren die Folge. Heute leben acht Mal so viele Menschen mit irischer Abstammung in den USA als im Mutterland. In den 1980ern war es die EU, die dem Land mit dem Kohäsions- und Strukturfonds aus der Armutsfalle half und es war vor allem eines: Das Land senkte die Körperschaftssteuer. Dazu investierte man massiv in die Bildung und besann sich auf seine Verwandten jenseits des großen Teichs. 900 US-Unternehmen aus der Tech- und Pharmabranche warb man aktiv an, darunter die Europa-Töchter von Apple oder Alphabet. Allein Apple trägt heuer 14  Milliarden Euro an Steuern bei, was zum dritten Überschuss in Folge führt. Irland hat viel Geld, sehr viel Geld, doch auch das hat seine Kehrseite. So stiegen die Mieten in Dublin exorbitant. Der Quadratmeterpreis liegt um ein -Drittel höher als in der ohnehin teuren Bayern-Metropole München. Der Streit, was man mit dem Geld anfangen soll, ist längst entbrannt. Der Taoiseach, quasi der Premierminister Irlands, Simon Harris von der liberalkonservativen Fine  Gael will sparen bzw. in zwei Staatsfonds einzahlen, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Die Regierung hält die Rekordeinnahmen für ein zeitlich begrenztes Phänomen. Die Opposition will investieren. Bei den vorgezogenen Neuwahlen im November setzten sich die Konservativen durch. 

Den Job hätten viele gerne. Der irische Finanzminister Jack Chambers mit dem Budget für 2025, in dem sich ein 8,6-Milliarden-Euro-Plus befindet.

Portugals Luxusproblem

Portugal hat ein ähnliches „Luxusproblem“. In Lissabon feiert man 2024 den höchsten Haushaltsüberschuss seit Ende der Diktatur vor 50  -Jahren. 3,2  Milliarden Euro stehen heuer auf der Habenseite. Dabei erlitten die Nach-fahren Vasco da Gamas fast schon Schiffbruch. 2011 war der Staat pleite. Es drohte ein zweites Griechenland. Die Voraussetzungen waren ähnlich. Ein 78-Milliarden-Euro-Schutzschirm wurde drei Jahre lang aufgespannt. Danach ging es steil bergauf. Sogar Paul Krugman, US-Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger, nannte Portugal ein „Wunder“, gleichzeitig verstehe er nicht, warum dieses Wunder eingetreten ist, verriet er dem portugiesischen „Jornal de Negócios“. Das Wunder steht auf mehreren Beinen. Zum einen gab es eine seit 2015 arbeitende stabile Regierung. António Costa von den Sozialisten wurde erst im März 2024 nach drei Amtszeiten abgewählt. Zudem gelang es trotz teils kräftiger Lohnerhöhungen, die Teuerung niedrig zu halten. Die nun regierenden Sozialdemokraten – der Name verwirrt, denn es ist eine liberal-konservative Partei – unter Luís Montenegro steht hingegen auf tönernen Beinen. Montenegro schloss ein Bündnis mit den Rechtspopulisten aus und hat eine Minderheitsregierung mit Parteilosen gebildet. Den grundsätzlich eingeschlagenen Weg, auch bei Investitionen in die Infrastruktur, hält er aber vorerst bei.

Spanische Re-Remigration

Im Nachbarland Spanien ist die -Politik ebenso von Kontinuität geprägt. Seit 2016 ist Pedro Sánchez Regierungschef, ebenfalls in dritter Amtsperiode, nicht zuletzt wegen eines überstandenen Misstrauensvotums durch die rechte VOX. Eben jene VOX, die derzeit ganz besonders keine Freude mit der Regierung zu haben scheint. Denn während die in fast ganz Europa stärker werdenden Rechtspopulisten „Remigration“ skandieren, will Spanien in den nächsten drei Jahren 300.000 illegalen Migranten eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erteilen. Der Grund: Spaniens Wirtschaft brummt und lechzt nach Arbeitskräften. Neben Tourismus und Landwirtschaft stieg auch die Nachfrage an Industriegütern und Dienstleistungen. Die Zahl der exportorientierten Indus-trieunternehmen wuchs seit 2008 um ein Drittel. Spanien industrialisiert sich verstärkt. Die Arbeitslosenzahlen gehen rapide zurück – aktuell verzeichnet man die niedrigste Quote seit 15 Jahren. Auch das Sorgenkind, die hohe Jugendarbeitslosigkeit, bekam man in den Griff. Die Iberer kamen damit besser als andere durch die Krisen der vergangenen Jahre. Die Inflation blieb dank staatlicher Interventionen im Energiesektor niedrig. Die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel wurde zeitlich begrenzt ausgesetzt. Der sozialistische Ministerpräsident bleibt aber vorsichtig. Vor allem das Wachstum im -Tourismus stößt an seine natürlichen und baulichen -Grenzen. Das Phänomen des Wassersparens auf den Balearen ist ein Symptom dessen. Ein Symptom für die Stabilität ist hingegen die Rendite der zehnjährigen Staatsanleihen. Investoren bekommen dafür erstmals höhere Ausschüttungen als für -französische Staatsanleihen.  

Donald Tusk kann stolz sein: Trotz einiger Turbulenzen 2023 wächst Polens Wirtschaft seit 2008 kontinuierlich. Das schaffte sonst kein EU-Staat.

Theo, wir gehen zurück nach Lodz

Von den beiden Sozialisten geht es in das vom wirtschaftsliberal-konservativen Donald Tusk geführte Polen. Doch Tusk übernahm in einer Phase der -kurzen Instabilität. Die Verbraucherinflation stieg massiv (bis zu 20  % im Jänner  2023), Energiepreise und steigende Lohnkosten machten auch den bis dahin erfolgsverwöhnten Polen zu schaffen. 2024 geht es wieder deutlich bergauf. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank Polska Arkadiusz Krześniak rechnet mit einem BIP-Wachstum von etwa vier Prozent im vierten Quartal 2024. Trotz dieses kleinen Dämpfers ist seit 2008 die polnische Wirtschaft, selbst in Krisenzeiten, gewachsen. Das hat sonst niemand in der EU geschafft. Gründe dafür gibt es viele. Einer sticht dabei besonders heraus: Polen hat sich stets selbst erfunden. Von dem ursprünglichen Billiglohnland bzw. der verlängerten Werkbank für europäische Produzenten ist es mittlerweile in einigen Industriebereichen Innovationsführer. Herzstück sind die gut ausgebildeten Fachkräfte im Land, das 2020 einen weiteren Boom erleben sollte. -Zahlreiche Handwerker, die in den -wirtschaftlich unsicheren Zeiten in den 1990ern, Anfang 2000ern nach Großbritannien auswanderten, kamen nach dem -Brexit wieder zurück. Das Lohn-niveau hat sich kontinuierlich nach oben bewegt, die Lebenshaltungskosten sind aber weit günstiger als im Königreich. Doch der Motor stottert aktuell – wenngleich auf sehr hohem Niveau – ein wenig. Das industrialisierte und sehr exportorientierte Polen spürt Zurückhaltung auf den Exportmärkten, zudem drückt der aufgewertete Zloty auf die Exportfreude. Doch die Wirtschaft bleibt grundsolide. Polnische Unternehmen sind deutlich geringer verschuldet als westeuropäische. Die Zinslast drückt nicht aufs Budget und es kommt kaum zu Insolvenzen. 

Vorbildwirkung?

Beispiele, die zeigen, dass Politik nicht machtlos dem Spiel der Märkte zusehen muss. Beispiele, die auch zeigen, dass es nicht auf Ideologien ankommt, sondern auf das große Ganze. Beispiele von Ländern, die nicht immer erfolgsverwöhnt waren. Ist Österreich zu „satt“ geworden? Vielleicht sollte eine neue Bundesregierung gleich nach der Angelobung eine Bildungsreise nach Polen, Portugal, Spanien und Irland starten. 

 

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