Lieferkettenrichtlinie - von Monstern, Ketten & Kokosnüssen
Der deutsche Auswanderer August Engelhardt reiste 1902 auf die Südseeinsel Kabakon. Überzeugt von der Kraft der dort überall wachsenden Kokosnuss gründete er auf Kabakon eine Sekte – den Sonnenorden – samt eigener Bewegung namens Kokovorismus. Engelhardt und seine Jünger dachten, dass der ausschließliche Verzehr der Tropenfrucht gepaart mit konsequentem Nudismus sie in unsterbliche Lichtwesen verwandeln würde. Kopfbedeckungen waren verboten, denn das Hirn, so Engelhardt würde sich durch die Haarspitzen nähren, weil diese am nächsten an der Sonne seien. Was das mit der Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) der EU – bekannter als Lieferkettenrichtlinie – zu tun hat? Die Nachfrage nach Kokosprodukten in Europa steigt rasant. Als Superfood bezeichnet, ist der Hunger nach Kokosmilch, Kokosflocken oder als Bestandteil von Kosmetika explodiert. Doch Kokosnüsse sind schwer zu ernten. Es gibt keine Maschinen dafür. Die Ernte wird mit viel Handarbeit eingeholt.
Oxfam schätzt, dass 60 Prozent aller Kokosnussbauern auf den Philippinen in bitterer Armut leben. Ihnen sei der Zugang zu Bildung verwehrt und sie werden von den Zwischenhändlern extrem schlecht bezahlt. Dazu kommt es regelmäßig zu Arbeitsunfällen, weil viele Bauern nicht richtig sturzgesichert seien. Ähnliches wird aus dem Avocadoanbau und von Nussfarmen berichtet. Während Befürworter der CSDDD eine Verbesserung der Arbeits- und Anbaubedingungen erwarten, rechnen andere mit einer deutlichen Verteuerung der Produkte. Doch was beinhaltet die CSDDD überhaupt? Sie verpflichtet Unternehmen, ihre Lieferketten auf Nachhaltigkeit und ethische Prinzipien zu überprüfen. Umwelt, Klimaschutz und Menschenrechte müssen lückenlos dokumentiert werden.
Gesprengte Ketten
Das Thema reißt auch politische und ideologische Gräben auf. „Mit einem deutlich überzogenen Etikettenschwindel werden dann irrwitzige politische Entscheidungen durchgedrückt, die unsere Gesellschaft und unseren Standort Österreich nachhaltig verändern und schwächen. Irgendwelche ‚Nachhaltigkeitsberichte‘ und das ‚Lieferkettengesetz‘ belasten unsere Unternehmer enorm“, heißt es in einer Aussendung der Freiheitlichen Wirtschaft. Deren Obmann Matthias Krenn sieht darin sogar, dass „sich eine zerfledderte ÖVP für die marxistische Babler-SPÖ schmückt.“ Die Sozialdemokraten sehen das naturgemäß anders. Die außenpolitische Sprecherin Petra Bayr meint: „Unternehmen haben nicht nur eine Verantwortung gegenüber jenen Angestellten, die in Europa in der Unternehmenszentrale arbeiten, sondern für alle entlang der Lieferkette. Es kann nicht sein, dass Unternehmen in der EU von Kinder- oder Zwangsarbeit außerhalb der EU profitieren. Dank des neuen Gesetzes werden diese Unternehmen in Zukunft schadenersatzpflichtig sein.“
KMU nicht betroffen, oder doch?
Am 24.4.2024 wurde die CSDDD im EU-Parlament beschlossen. Vorerst betrifft sie nur Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von mehr als 450 Millionen Euro. Der ursprüngliche Entwurf sah Unternehmen ab 500 Beschäftigten und einem Umsatz von mehr als 150 Millionen Euro vor. Österreichs Wirtschaft ist bei den letztgültigen Rahmenkennzahlen scheinbar nur gering betroffen, die allermeisten Unternehmen fallen unter diese Grenzen. In Österreich zählt ein Unternehmen statistisch ab 250 Mitarbeitern als Großunternehmen. Statista zählt deren ca. 1.890, also nur 0,3 Prozent aller Unternehmen im Lande. Rosemarie Schön, Leiterin der Abteilung Rechtspolitik der WKO, sieht das aber nur theoretisch so. Die formale Ausnahme von Klein- und Mittelbetrieben sei, so Schön, in der Praxis irrelevant, wenn die Verpflichtungen von betroffenen größeren Unternehmen entlang der Lieferkette weitergegeben werden müssen. In der Fachsprache nennt man das Trickle-down-Effekt. „Besonders für KMU sind die Bürokratie und Dokumentationspflichten schon jetzt schwer verkraftbar. Es darf kein Gold Plating geben: Der administrative Aufwand und die Kosten für Verwaltungsvorschriften müssen bei der nationalen Umsetzung des Lieferkettengesetzes in Österreich so gering wie möglich gehalten werden.“ Das sieht auch WIFO-Direktor Gabriel Felbermayr so. „Ich hätte mir ein starkes Gesetz gewünscht, das bei den Lieferanten ansetzt, nicht bei den Lieferbeziehungen. Schade. Diese Lösung ist teuer und wenig effektiv.“
Bürokratiemonster?
Für den Präsidenten der IV Österreich, Georg Knill, schießt sich die EU „ins eigene Knie“. „Das Lieferkettengesetz führt zu einem enormen bürokratischen Aufwand und erheblichen Kosten durch ausufernde Sorgfaltspflichten, vor allem für Klein- und Mittelbetriebe. Die Entscheidung des EU-Parlament ist unverantwortlich und schwächt europäische und österreichische Unternehmen.“ Knill räumt aber einen gewissen guten Willen ein: „Was gut gemeint ist, ist nunmehr das Gegenteil von gut gemacht. Europa verliert damit erneut an Glaubwürdigkeit.“ Das Bürokratiemonster, das Knill sieht, geht nicht zuletzt auf fehlende Daten zurück. Selbst Oxfam räumt ein, dass viel zu wenige über die realen Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern, die meist am Anfang der Kette stehen, verfügbar seien.
CSDDD zum Vorteil nützen
Wie kann man mit den fehlenden Daten die Lieferkette sorgsam prüfen? Des einen Leid, des anderen Freud. Zahlreiche IT-Unternehmen bieten Lösungen an. Für die Gartner Group ist eine saubere Lieferkette aber kein anlassbezogener Fall, sondern bereits länger Notwendigkeit. Schon die Pandemie hätte aufgezeigt, dass klassisches Supply-Chain-Management nicht mehr ausreicht, dazu kommen globale Krisen und der Klimawandel. All das habe dazu geführt, dass sich Unternehmen in den letzten Jahren ihre Lieferketten genauestens angesehen hätten. In einer Gartner-Umfrage meinten 82 Prozent der befragten Chief Supply Chain Officers bereits 2022, ihre Ketten in Richtung Nachhaltigkeit auszurichten. Das sei nicht nur ein hehres Ziel sondern ein Muss, so das Beratungsunternehmen.
Mit Technologie gegen Bürokratie
Unterstützt werden Unternehmen dabei von Programmen und Software. Künstliche Intelligenz und die Blockchain könnten das „Bürokratiemonster“ entschärfen. Für Harald Nitschinger, Co-Founder und Managing Director des Scale-ups Prewave treibt die Lieferkettenrichtlinie Innovationen an und „schafft die Möglichkeit, die europäischen Lieferketten nicht nur nachhaltiger, sondern auch widerstandfähiger zu gestalten“, wie er in einem Gastkommentar bei brutkasten schreibt. Nachhaltigkeit und Sicherung des Wohlstands in Europa seien für ihn kein Widerspruch. Prewave hat dabei Erfahrungen mit ähnlichen nationalen Gesetzgebungen außerhalb der EU, wie dem Schweizer CSoTr oder dem Norwegian Tranparency Act. Beispiele, die zeigen, dass auch die „effiziente und unbürokratische Umsetzung mittels moderner Technologie möglich ist“. Prewave etwa betreut mehr als 170 Unternehmen bei der Erfüllung des deutschen
Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG).
Pragmatik spart viel Zeit
Nitschinger sieht dabei keine Totalüberwachung der Lieferanten, sondern empfiehlt einen gezielten risikobasierten Ansatz. Der fokussiere sich auf das Monitoring der wichtigsten -Segmente innerhalb der Wertschöpfungskette. „Dies sind Bereiche, die sowohl für Nachhaltigkeitsverstöße anfällig sind, besonders kritisch für den Betrieb und auch von Unternehmen beeinflusst werden können.“ Diese identifizierten Risken ermöglichen technologische Monitoringlösungen in Echtzeit. Die Berichterstattung würde dadurch automatisiert und effektiver. „So wird nicht nur Bürokratie vermieden, sondern tatsächlich der wirtschaftliche Betrieb gestärkt.“ Vor allem für KMU sei das wichtig, so Nitschinger. Sie bräuchten pragmatische Lösungen. „Unser Vorschlag sind hier Branchenlösungen bzw. Zertifizierungsprozesse, die ein Whitelisting ermöglichen.“ Damit würde der Aufwand drastisch reduziert und das Ausfüllen von Fragebögen vermieden. Es gibt also Lösungen – auch für die Kokosnuss –, und daher ist wohl nicht zu befürchten, dass die Wirtschaft so nackt dastehen wird, wie August Engelhardt auf seiner Kokosnussinsel Kabakon.