Drei Levels für Lebensmittelretter
Die krumme Gurke, die am Feld ihr Ende findet. Das Semmerl, das seit den Morgenstunden im Supermarkt liegt und letztlich entsorgt wird. Und das Joghurt, das in den Untiefen des Kühlschranks hinter neuen Produkten vergessen wurde. Laut einem WWF-Report gehen etwa 40 Prozent der weltweit produzierten Nahrungsmittel entlang der Wertschöpfungskette verloren. In Österreich landen laut Greenpeace jährlich mindestens 700.000 Tonnen Lebensmittel im Müll oder verrotten am Feld. WWF geht sogar von einer Million Tonnen aus. Ebenfalls verheerend ist die unnötige Überproduktion für das Klima. Laut WWF ist die Lebensmittelverschwendung für rund 10 Prozent des globalen Treibhausgasausstoßes verantwortlich. Das ist knapp doppelt so viel an Emissionen, wie der Autoverkehr der EU und der USA gemeinsam produziert. Es braucht einen Gegentrend. Glücklicherweise gibt es findige Unternehmen und Organisationen, die Lebensmittel retten. Und das entlang der gesamten Wertschöpfungskette.
Level 1: Am Feld
Rund ein Drittel der verschwendeten Lebensmittel findet sich im Müll der Landwirtschaft und der Produzenten. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Die bekanntesten, die auch in den Medien gerne breitgetreten werden, sind Aussehen, Größe und Form der Früchte. Im modernen Handel ist vieles optimiert und Kunden haben gewisse, teils irrationale Ansprüche an die Lebensmittel.
Darüber hinaus produzieren Bauern einen Überschuss, da sie gewisse Mengen im Voraus garantieren müssen. Fällt die Ernte sehr gut aus, bleiben Früchte teilweise auf dem Feld zurück. Manche Landwirte vertreiben ihre Produkte, die nicht der Norm entsprechen, direkt im Hofladen oder verschenken sie. Ein Linzer Start-up, das Obst und Gemüse vom Feld rettet, ist afreshed. Sogenannte „Retterboxen“ werden direkt zu den Kunden geliefert. Am Schwendermarkt in Wien wiederum wurde 2016 Unverschwendet von den Geschwistern Cornelia und Andreas Diesenreiter gegründet. Das Unternehmen verarbeitet gerettetes Obst und Gemüse weiter. „Seit unserer Gründung haben wir bereits beachtliche 350.000 Kilo Obst und Gemüse aus der Landwirtschaft gerettet und ihnen eine zweite Chance als köstliche Feinkost gegeben“, berichtet Cornelia Diesenreiter. Es ist jedoch noch einiges an Potenzial vorhanden: „Es wurden uns bereits 15 Millionen Kilo an Obst und Gemüse angeboten.“ Diesenreiter, die aus Steyr kommt, ist es gelungen, ein funktionierendes Geschäftsmodell aufzubauen und über die letzten Jahre deutlich zu wachsen. Aus vermeintlich ungewollter Ware stellt man hochwertige Produkte her. Durch den wirtschaftlichen Erfolg stellt man auch sicher, in Zukunft weiterhin Lebensmittel retten zu können. Ein Wunsch von Diesenreiter ist, dass sich der Fokus der Politik und Medien etwas verlagert. Derzeit würde man sich sehr auf Verschwendung im Handel konzentrieren und die Landwirtschaft weitgehend ausblenden. „Mehr als 288.000 Tonnen Lebensmittel werden am Beginn der Wertschöpfungskette entsorgt“, erklärt sie, „also mehr als dreimal so viel wie im Handel mit knapp 89.000 Tonnen.“
Level 2: Im Handel
Im Handel und in der Gastronomie fällt die Menge an entsorgten Nahrungsmitteln also bedeutend geringer aus als am Feld. Dieses Potenzial wird dafür umso intensiver genutzt. Vor 25 Jahren wurde Österreichs erster Sozialmarkt in Linz gegründet. Personen mit geringem Einkommen können hier ihren Einkauf erledigen. Dabei werden die Produkte dem Sozialmarkt gratis vom Lebensmittelhandel überlassen. In rechtlichen Grauzonen bewegen sich die sogenannten „Dumpster Diver“. Sie tauchen in Mülltonnen und holen Weggeworfenes heraus. Die Reaktionen der Handelsketten sind sehr unterschiedlich. Seit einigen Jahren gibt es aber neben Sonderaktionen und Spenden eine weitere Alternative, wie der Handel und auch die Gastronomie ihren Lebensmittelabfall reduzieren können: Too Good to Go. Das dänische Unternehmen kreierte eine App, in der Konsumenten zu günstigen Preisen Produkte kaufen können, die sonst im Abfall geendet wären. Die Händler stellen dazu ein „Überraschungssackerl“ zusammen und geben in der App eine Annonce auf. Für diesen Service verlangt Too Good To Go eine Provision vom Verkäufer. 2015 wechselte das erste Sackerl den Besitzer. Heute ist man in 18 Ländern aktiv. Georg Strasser-Müller, Country Director Too Good To Go Schweiz & Österreich, spricht über die Wirkung der App: „Too Good To Go zählt 100 Millionen registrierte Nutzer, die zusammen mehr als 350 Millionen Mahlzeiten vor der Verschwendung bewahrt haben.“
Überraschungssackerl oder Sozialmarkt
In den letzten Jahren kamen von den Sozialmärkten jedoch immer wieder alarmierende Botschaften. Denn vor allem in den Städten steigt die Nachfrage, die Warenmenge bleibt aber oftmals gleich. Manche Betreiber wohltätiger Organisationen brachten in der Vergangenheit auch Lebensmittelretter-Apps wie Too Good to Go ins Gespräch. Wobei Lebensmittelanbieter erklärten, dass sie nur Lebensmittel via Too Good to Go anbieten, die ohnehin nicht gespendet werden würden. Und auch Strasser-Müller hält dagegen: „Sozialmärkte und Tafeln leisten seit Jahrzehnten wertvolle Arbeit, können jedoch aus hygienerechtlichen, logistischen oder personellen Gründen oft nicht alle überschüssigen Lebensmittel annehmen.“ Er sieht sein Unternehmen als ergänzende Lösung. „Wobei die größte Konkurrenz nach wie vor die Mülltonne ist.“ Lebensmittelverschwendung ist für ihn in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht eine Herausforderung, „die gleichzeitig Chancen für verschiedene Stakeholder und unterschiedliche Lösungsansätze bietet“.
Level 3: Zu Hause
Und damit kommen wir zu den größten Sündern: zu uns Konsumenten. Über 50 Prozent der verschwendeten Lebensmittel landen laut EU-Studie zu Hause im Müll. Klimaschutzministerin Leonore Gewessler möchte die Lebensmittelverschwendung bis 2030 halbieren. Eine Social-Media-Kampagne, die im frühen Sommer angelaufen ist, richtete sich vor allem an junge Erwachsene. Denn gerade ihnen fehlt noch das Wissen um den richtigen Umgang mit Nahrungsmitteln. Auch Diesenreiter ist Bewusstseinsbildung ein Anliegen. „Die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Konsum und Wegwerfverhalten hat sich in vielen Bereichen schon etabliert“, resümiert sie über die letzten Jahre, „aber auch hier gibt es noch viel zu tun und aufzuklären.“