Schlechte Noten bei Finanzbildung
Die Finanzbildung in Österreichs Schulen liegt im Argen, sagt Georg Hans Neuweg, Vorstand des Instituts für Wirtschafts- und Berufspädagogik an der Johannes Kepler Universität Linz. Rund ein Viertel der Schüler kann seinen Kontoauszug nicht lesen, keine Mängelrüge an den Installateur verfassen und den Inhalt des Vertrages nicht verstehen, den sie mit einem Mobilfunkanbieter abgeschlossen haben, sagt Neuweg im Gespräch mit CHEFINFO.
Junge Menschen können ihren Kontoauszug nicht lesen
CHEFINFO: Vertreter aus der Wirtschaft beklagen mangelndes ökonomisches Wissen bei jungen Menschen und plädieren für mehr Finanzbildung bei Schülern. Wie beurteilen Sie diese Einschätzung und können Sie als Kenner des Schulsystems die Kritik nachvollziehen?
Georg Hans Neuweg: Welchen geringen Stellenwert die wirtschaftliche Bildung in Österreich hat, können Sie schon daran ablesen, dass uns wichtige Daten zur Beantwortung Ihrer Frage fehlen. Bei PISA wird seit 2012 optional auch die Finanzkompetenz der Schüler getestet. Erst heuer aber hat Österreich sich erstmals an diesem Zusatzmodul beteiligt. Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein. Bisherige Daten aus österreichischen Untersuchungen, etwa der ÖNB, lassen vermuten, dass der Umgang mit Finanzdienstleistungen, also der Komplex Sparen/Veranlagen, Kredite und Versicherungen, ein echtes Problem darstellt. Das ist schon deshalb so, weil vielen jungen Menschen die Allgemeinbildung fehlt, die sie brauchen, um wirtschaftliche Angelegenheiten regeln zu können. Wir haben, wenn man den „PISA 2018“-Daten folgt, beim Lesen 24 Prozent Risikoschüler, in Mathematik 21 Prozent. Diese Menschen können ihren Kontoauszug nicht lesen, keine Mängelrüge an den Installateur verfassen und verstehen den Inhalt des Vertrages nicht, den sie mit einem Mobilfunkanbieter abgeschlossen haben. Und kein einziger Unterstufenschüler wird gezielt in Wirtschaft unterrichtet, weil es in Österreich dafür kein Unterrichtsfach gibt. Wirtschaft wird von den Geografie-Lehrkräften mehr oder weniger nebenbei mit unterrichtet. Die Klagen sind also nachvollziehbar. Um das Wirtschaftswissen und um die ökonomischen Life Skills der jungen Menschen steht es tatsächlich nicht gut.
"Wir haben europaweit ein Problem"
Warum wurde das Thema bei uns so lange vernachlässigt, und wo steht Österreich hier im Vergleich zu anderen Ländern?
Neuweg: Wir haben europaweit ein Problem. Die österreichischen Daten unterscheiden sich von OECD-Daten nicht wirklich. Der damalige EU-Kommissar Tonio Borg hat schon 2012 darauf hingewiesen, dass sage und schreibe 45 Prozent der Europäer sechs Prozent Zinsen für ein 50.000-Euro-Darlehen nicht ausrechnen können. Und das ist nicht nur ein Problem der bildungsfernen Schichten. Etwa die Hälfte der österreichischen Oberstufenschüler scheitert an der Frage, wie hoch nach einem Jahr der Zinsgewinn eines Guthabens von 1.000 Euro ist, wenn dieses bei 25 Prozent KESt mit zwei Prozent jährlich verzinst wird. Aber es gibt Hoffnung. Im deutschen Baden-Württemberg wurde inzwischen ein eigenes Schulfach Wirtschaft eingeführt, und in Österreich wurde eine Stiftung Wirtschaftsbildung gegründet, die hoffentlich Positives bewirken kann.
"Für eine Wohlstandsnation wie unsere eine Schande"
Warum ist finanzielle Bildung gerade heute wichtig?
Neuweg: Finanzielle Bildung muss absichern, dass Menschen durch privates Liquiditätsmanagement ihr finanzielles Gleichgewicht wahren können, über einfache Sparprodukte hinaus Veranlagungsformen und deren Vor- und Nachteile kennen, um ihre Ersparnisse einkommens-, lebenssituations- und zielgerecht veranlagen zu können. Eine zunehmend wichtigere Rolle spielt dabei eine strategisch konzipierte Pensionsvorsorge. Finanzielle Grundbildung muss außerdem die Grundlage für kompetentes Finanzierungsverhalten – z. B. Konsumkredite, Baufinanzierung, Kreditkarten – und Schuldenmanagement legen und Orientierung beim Aufbau eines vernünftigen Versicherungsportfolios bieten.
Wo müsste man an den Schulen ansetzen?
Neuweg: Es gibt drei zentrale Ansatzpunkte. Erstens müssen möglichst alle Österreicherinnen und Österreicher, wenn sie die Pflichtschule verlassen, lesen, schreiben und rechnen können. Dass man das von jedem Vierten oder Fünften nur eingeschränkt behaupten kann, ist für eine Wohlstandsnation wie unsere eine Schande. Zweitens braucht es einen Wirtschaftsunterricht durch speziell dafür ausgebildete Lehrkräfte – und zwar nicht nur in den Wirtschaftsschulen, sondern auch und besonders im allgemeinbildenden Schulwesen. Und drittens müssen wir die Schulkultur so weiterentwickeln, dass junge Leute dort nicht auf ein träges, sondern auf ein dynamisches System treffen, das ihre Selbstwirksamkeitsüberzeugung stärkt und ihr Vertrauen darin stärkt, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen können.
Wir brauchen auch Entrepreneurship Education. Mehr Gründungsneigung und -eignung, mehr Mut zum kontrollierten Risiko und mehr Innovationsgeist schaden unserem Land nicht.
"Derzeit sitzen viel zu viele in der für sie falschen Schule"
Welche Inhalte, Fertigkeiten sollten vermittelt werden? Was sollten Jugendliche unbedingt wissen und können?
Neuweg: Mit Finanzbildung und Konsumentenerziehung allein ist es nicht getan. Wir brauchen dringend drei weitere Säulen. Die erste ist die Berufsorientierung. Junge Menschen müssen sich und ihre Interessen finden und in Kenntnis der Vielfalt der Berufe und Ausbildungsmöglichkeiten einen Ausbildungs-, Lebens- und Berufs-weg finden, der ihrem persönlichen Fähigkeits- und Interessenpotenzial bestmöglich gerecht wird. Derzeit sitzen viel zu viele in der für sie falschen Schule, weil die Bildungs- und Berufsberatung nicht gut genug funktioniert. Es ist auch recht merkwürdig, dass Jugendlichen bei etwa 200 Lehrberufen in Österreich immer nur der Friseur, der Kfz-Mechaniker und der Tischler einfallen. Die zweite Säule ist die Entrepreneurship Education. Mehr Gründungsneigung und -eignung, mehr Mut zum kontrollierten Risiko und mehr Innovationsgeist schaden unserem Land nicht, und auch hier hat das Bildungssystem seine Aufgaben. Und die dritte Säule ist etwas, das man nach wie vor am besten mit dem Begriff der wirtschaftsbürgerlichen Erziehung bezeichnen kann.
Fragen der gerechten Verteilung des Wohlstands
Was verbirgt sich genau hinter dem Begriff der wirtschaftsbürgerlichen Erziehung?
Neuweg: Ökonomische Allgemeinbildung muss nicht nur sicherstellen, dass Menschen in ihrer Rolle als Steuerzahler und als Wähler die wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziele, Konzepte und Maßnahmen verstehen und sich über wirtschaftspolitische Programme und Vorschläge ein selbstständiges und sachliches Urteil bilden können. Sie muss mehr denn je auch sicherstellen, dass Menschen verstehen, was Märkte sind und wo ihre Funktionsdefizite liegen. Die Klimakrise wirft die Frage auf, wie menschliche Innovationskraft und die Anreize von Markt und Wettbewerb uns helfen können, nachhaltigere Technologien, Energieversorgungssysteme, Produkte und Dienstleistungen zu erfinden. Fragen der gerechten Verteilung des Wohlstands, besonders im weltumspannenden Rahmen, spitzen sich zu. In den reichen Industrienationen suchen zunehmend mehr Menschen ihren Lebenssinn abseits von Arbeit, Beruf und Wirtschaft. Kritik an der Marktwirtschaft kommt einerseits in saturierten Gesellschaften zusehends in der Mitte der Gesellschaft an, während andererseits aufstrebende Wirtschafts-räume die Entwicklung ihrer Märkte und ihrer internationalen Wettbewerbskraft mit hohem Tempo vorantreiben. Das alles stellt uns vor die Frage: Wie wollen wir leben und wirtschaften – und um das zu beantworten, müssen möglichst viele wirtschaftlich gut gebildete Menschen am politischen Diskurs partizipieren.
‚Bildung to go‘ gibt es nicht. Uns kommt allmählich das Bewusstsein dafür abhanden, dass Lernen auch etwas mit Anstrengung und Durchhaltevermögen zu tun hat.
Früher gab‘s Monopoly, heute bieten Startups für Heranwachsende zahlreiche Angebote im Bereich Finanzbildung an. Sie reichen von Taschengeld-Apps, Wissensquiz bis hin zu Investmentspielen. Wie sinnvoll ist der Einsatz digitaler Dienstleistungen?
Neuweg: Nice to have, aber überschätzt – und gefährlich, wenn man glaubt, das genügt. „Bildung to go“ gibt es nämlich nicht. Man kann nicht alles nebenbei und spielerisch lernen und das wirklich Wichtige schon gar nicht. Uns kommt allmählich das Bewusstsein dafür abhanden, dass Lernen auch etwas mit Anstrengung und Durchhaltevermögen zu tun hat.
Zur Person
Georg Hans Neuweg, Jahrgang 1965, ist seit 2019 Vorstand des Instituts für Wirtschafts- und Berufspädagogik an der Johannes Kepler Universität Linz. Der Autor zahlreicher pädagogischer Fachbücher ist langjähriger Berater für das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, hat Lehrerfahrungen an mehreren Universitäten, in der Lehrerfortbildung sowie an einer Schule und ist weiters Achtsamkeits- und Meditationslehrer.