Da fährt der Zug drüber
Was assoziieren Sie mit zwei Schotten, einer unsichtbaren Hand und Volldampf? Wohl eher eine billige Improshow oder einen Klamaukfilm aus den 1950ern. Tatsächlich sollte das zeitliche, nicht örtliche Aufeinandertreffen dieser beiden Schotten den Lauf der Geschichte verändern. Während der eine Universitätsmechaniker in Glasgow war, war der andere ein ehemaliger als schrullig geltender Universitätsprofessor in Kirkcaldy in der Nähe von Edinburgh. Jener Professor, der seit Kindesbeinen als gedankenversunken galt, ging in die Geschichte der schottischen Hauptstadt ein, als er im Morgenrock stundenlang durch die Stadt wanderte, ehe ihm der Fauxpas erst auffiel. Er entschuldigte sich damit, dass eine „unsichtbare Hand“ im Spiel war. Die Rede ist von Adam Smith, der diese ominöse Hand in seinem Hauptwerk: „The Wealth of Nations“, das 1776 erschien, wieder aufgreifen sollte. „Eine unsichtbare Hand führe die Wirtschaft automatisch zum Wohle aller und in ihr Gleichgewicht.“ Das Konzept der freien Marktwirtschaft war geboren. Sein Landsmann aus Glasgow, James Watt, hatte sich sieben Jahre zuvor mit der Patentanmeldung der Dampfmaschine einen Namen gemacht. Watt hat diese zwar streng genommen nicht erfunden – das war der Franzose Denis Papin bereits 1690 –, doch er machte sie wirtschaftlich, indem er den Wirkungsgrad massiv erhöhte. Erst durch diese beiden Schotten nahm die industrielle Revolution Fahrt auf, und zwar unter Volldampf, denn sie ermöglichte eine Entwicklung, die den weltweiten Handel und die Produktion auf völlig neue Beine stellte: die Eisenbahn.
Zwei Schotten unter Volldampf
Großbritannien war nicht zuletzt deshalb die Wiege der industriellen Revolution, weil es im 19. Jahrhundert der Treiber der Eisenbahntechnologie war. Später sollten die USA diese Rolle übernehmen. Die „Neue Welt“ hätte ohne Eisenbahn nie so schnell prosperieren können. Und nun raten Sie, wer aktuell der größte Innovationstreiber der Bahntechnologie in der Welt ist. Österreich! Kein Land der Welt hat aktuell eine höhere Erfinderdichte in der Bahnindustrie. Während wir pro eine Million Einwohner 50 Patente anmelden, liegt die Nummer zwei, China, bei gerade einmal 18. Gemessen an den Patenten gesamt liegt Österreich weltweit an sechster Stelle. Im Gleisoberbau ist das noch imposanter: Jedes zweite globale Patent stammt aus unserem Land. Bezogen auf die Einwohner ist Österreich damit die klare Nummer eins weltweit bei der Erfinderdichte. In kaum einem industriellen Feld ist die Alpenrepublik weltweit so bedeutend. Einer Industrie, die nicht zuletzt durch den Klimawandel einen enormen Boom erlebt und die als Schlüsselfaktor einer umweltfreundlichen Mobilität wieder ins globale Scheinwerferlicht rückt. Experten sind sich sicher, der Weg in die Zukunft wird schienengebunden sein, ob im Fern-, Güter- oder Nahverkehr. Ob als Hochgeschwindigkeitszug, U-, S- oder Straßenbahn.
Höchste Erfinderdichte weltweit
Ein paar Fakten gefällig? Rund 10.000 Beschäftigte der heimischen Eisenbahnindustrie erwirtschaften nicht nur 3,1 Milliarden Euro Umsatz, sondern sorgen mit einem überdurchschnittlich hohen Beschäftigungsmultiplikator für weitere rund 10.000 Jobs außerhalb der Branche. Beim wirtschaftlichen Beitrag und den Arbeitsmarkteffekten ist die heimische Bahnindustrie am selben Level wie die gesamte Forschung und Entwicklung in Österreich. Apropos Forschung und Entwicklung. Mit einer F&E-Quote von 6,4 Prozent liegt sie in der Branche doppelt so hoch wie der Durchschnitt (3,23 Prozent). Die Bahnindustrie ist damit eine der forschungsintensivsten Branchen des Landes. Und die Branche wächst. Kein Wunder, bei der globalen Bedeutung. Obwohl nur jeder tausendste Mensch weltweit Österreicher ist (0,1 Prozent der Weltbevölkerung), beträgt der Anteil österreichischer Firmen in der Bahnindustrie am Weltmarkt 5 Prozent. Pro Kopf betrachtet ist Österreich somit auch globaler Spitzenreiter bei Schienenfahrzeugen. Übrigens: Zwei von drei Euro werden im Export verdient. Ein Faktor für diesen Innovationszug ist laut Hannes Boyer, Präsident Verband der Bahnindustrie, nicht zuletzt die ÖBB: „Sie gibt der lokalen Industrie die Möglichkeit, Dinge zu erproben. Alles in allem ist das eine sehr innovationsfreundliche Umgebung.“
Mit Fahrplanoptimierungen soll die Kapazität des österreichischen Bahnnetzes bis 2040 verdoppelt werden. Bis dahin soll der gesamte Konzern CO2-neutral sein.
Globaler Erfolg, lokale Produktion
Wer sind nun diese Unternehmen? Stellen wir uns vor, wir würden ein Bahnunternehmen gründen und von null auf aufbauen. Die fiktive Vorgabe: Wir dürfen nur bei heimischen Unternehmen einkaufen. Beginnen wir also mit dem Bau bzw. der künftigen Instandhaltung. 1953 gründeten Franz Plasser und Josef Theurer in Linz ein Unternehmen, das mittlerweile 17.000 Maschinen gebaut hat, die den Gleisbau weltweit revolutionierten und beschleunigten. Von der Gleisverlegung bis zur Reinigung, oder dem Oberleitungsbau helfen die berühmten gelben Bauzüge von Plasser & Theurer, in 109 Ländern komplette Gleisanlagen zu errichten. Der einzige Komplettanbieter weltweit und selbstredend Weltmarktführer. Trotz dieser Stellung gibt es einen zweiten Anbieter von Gleisstopfmaschinen in Österreich: System7 rail. Apropos Gleisstopfen: Damit ist eine Methode gemeint, die Unebenheiten und Verschiebungen in Gleisen und Weichen beim Bau und der Instandhaltung behebt, indem die Schwellen mit Schotter unterfüttert werden. System7 rail ist in Laakirchen beheimatet, eben dort findet sich auch die Firma Linsinger. Linsinger stieg 2020 ebenso wie die Invest AG bei System7 rail ein, um das Wachstum zu beschleunigen. Linsinger Maschinenbau selbst baut Schienenschleif- und Schienenfräszüge. Schienen müssen geschliffen werden, um ihre Lebensdauer zu erhöhen. Aus dem Produktportfolio der Laakirchner sticht eine Maschine besonders hervor: der weltweit erste emissionsfreie Schienenfräszug, der mit grünem Wasserstoff betrieben wird. Fräsmaschinen beseitigen Oberflächenfehler für einen ruhigen Lauf. Apropos ruhiger Lauf: Der Weltmarktführer für Schwingungsisolierung stammt aus Bürs in Vorarlberg: Getzner Textil. Was Textilien mit der Bahnstrecke zu tun haben? Technische Spezialtextilien reduzieren die Erschütterungen, wenn der „Zug drüberfährt“. Das schont nicht nur die Gleisanlagen, sondern senkt auch die Lärmbelastung. Nachdem wir die Strecke vorbereitet haben, gehen wir zu Schritt zwei.
Spurwechsel mit 380 km/h: Das können nur wir
Um eine Eisenbahnlinie zu bauen, braucht man Schienen und Weichen. Die voestalpine Division Railway Systems hat beides im Programm. „Der eigentliche Wert des Werkstoffs Stahl liegt bei derart intelligenten Komplettsystemen, die bei U-Bahn und Straßenbahnprojekten in großen Metropolen ebenso zum Einsatz kommen wie auf Hochgeschwindigkeits- und Schwerlaststrecken, nur noch bei unter 5 Prozent“, heißt es aus dem Konzern. „Damit ist die voestalpine absoluter Technologie- und Innovationsvorreiter im weltweiten Bahninfrastrukturmarkt.“ Highlights wie die erste wartungsfreie Schiene oder die mit 120 Metern längsten Schienen der Welt gehören da ebenso dazu wie Höchstgeschwindigkeitsweichen, die Zügen selbst bei 380 km/h einen Richtungswechsel ermöglichen. Die bis zu 40 Sensoren, die diese Weichen überwachen, kommen ebenso aus dem Konzern. 70 Standorte auf allen Kontinenten unterstreichen diese Stellung. Sicherheitsrelevante Sensoren liefert auch Frauscher Sensortechnik in St. Marienkirchen. Radsensoren überwachen selbst unter widrigsten Bedingungen den Zustand der Räder und schlagen bei eventuellen Beschädigungen sofort Alarm. Die Achszähler von Frauscher melden, wenn die Strecke wieder frei ist.
Rot-weiß-rote Zugmaschinen seit 1872
Und nun brauchen wir noch Züge, den sogenannten Rolling Stock. Egal ob wir eine Straßenbahn, eine U-Bahn oder eine Hochgeschwindigkeitsbahn betreiben, wir müssen nicht in die Ferne schweifen. Siemens Mobility in Graz geht auf die 1854 gegründete „k.k. privilegierte Wagenfabrik Johann Weitzer“ zurück. Ab 1872 baute man Waggons und Loks. 1934 übernahm das Unternehmen die „Simmeringer Maschinen und Waggonbaufabrik“ und fusionierte 1941 zu „Simmering-Graz-Pauker“. 1994 stieg Siemens in die SGP ein und übernahm 2001 das Unternehmen komplett. Der ursprüngliche Standort Graz blieb nicht nur, sondern wurde zum Weltkompetenzzentrum für Fahrwerke der Siemens Mobility und ist eine der größten Fabriken ihrer Art weltweit. Und dann hätten wir noch das Alstom Werk in Wien. Dort werden Straßenbahnen und Flexitrams gebaut und dort ist auch das globale Kompetenzzentrum für den städtischen Schienenverkehr untergebracht.
Ob Weltall oder Attnang-Puchheim: Österreich digitalisiert die Mobilität
Zu guter Letzt unser Schritt vier: Die digitale Überwachung und Steuerung unserer Bahnstrecke. Hier finden wir Frequentis, den Weltmarktführer bei Sprachkommunikation in der Flugsicherung und unter anderem auch Ausstatter der NASA. Seit 1990 organisiert das 1947 in Wien gegründete Unternehmen auch die Kommunikation im Bahnverkehr, natürlich hochdigital. Auch die Kontron Transportation, Tochterfirma der in Linz ansässigen S&T AG, und Thales Österreich haben sich dieser Thematik gewidmet. Thales ist etwa dafür verantwortlich, dass heute 30 Prozent mehr Züge mit Geschwindigkeiten bis zu 250 km/h zwischen St. Pölten und Wien verkehren können. Der Gesamtanbieter hat digitale Lösungen zur Optimierung und Überwachung von Strecken im Programm. Hannes Boyer, Geschäftsführer von Thales Österreich und Präsident des Verbandes der Bahnindustrie, prophezeit der Bahn eine glänzende Zukunft. Allerdings müssen Hausaufgaben gemacht werden, etwa: „Wie bringe ich mehr Güter auf die Schiene und vor allem auf die Regionalbahnen, um Lkw einzusparen? Wie binde ich das umliegende Ausland besser ein?“
Die Flugzeugindustrie setzt auf langjährige Erprobung. Speziell in Bezug auf die Betriebsführung und die intensivste Automatisierung ist die Bahn effizienztechnisch viel weiter.
Europa wird auf Schiene gebracht – und zwar harmonisch
Zukunftsfragen, an deren Lösung man in Europa gerade arbeitet. „An erster Stelle steht ganz klar die Harmonisierung im europäischen Bahnverkehr“, erzählt ÖBB-Vorstandsvorsitzender Andreas Matthä. In der Fachsprache spricht man von der „Interoperabilität“. „Die europäischen Bahnen müssen näher zusammenrücken, um den grenzüberschreitenden Verkehr zu optimieren. Hier gibt es innerhalb des Systems noch enorme Effizienzpotenziale zu heben.“ Für Hannes Boyer liegt der Schlüssel in der Prozess- und Technologiestandardisierung: „Die hat man im Flugverkehr bereits.“ Trotzdem, das fanden Eisenbahnfreunde kürzlich heraus, kann man mit dem Zug von Portugal bis nach Singapur reisen. Die längste Bahnstrecke der Welt ist dabei stolze 18.755 Kilometer lang. Für ihre Bewältigung braucht es allerdings 21 Tage und man muss x-mal umsteigen. Vorerst geht es aber in Europa darum, die großen Metropolen so rasch wie möglich zu verbinden. Matthä: „Gemeinsam mit der EU haben die ÖBB als Founding Member mit 24 weiteren europäischen Partnern aus den Bereichen Bahnen, Industrie und Forschung das mehrjährige, mit über eine Milliarde Euro dotierte Forschungs- und Entwicklungsprogramm Europe’s Rail Joint Undertaking gegründet.“ Die Harmonisierung soll sich auch im Güterverkehr positiv auswirken: „Das Ziel ist, den Anteil des Schienengüterverkehrs in Europa bis 2030 von derzeit 18 auf 30 Prozent zu erhöhen. Schlussendlich muss es genauso einfach sein, einen Zug durch Europa zu fahren wie einen Lkw.“
Wüstenbahn statt Karawan(e)
Diese Zukunftsvisionen werden durch ein weltweites Revival der Bahn befeuert. Selbst Länder wie Saudi-Arabien, die bis vor Kurzem keinen einzigen Kilometer Schiene besaßen, setzen auf die Bahn und auf österreichisches Know-how. „Die Bahn erlebt global ein Revival. In Ländern wie den USA, wo es eine große Eisenbahntradition gibt, erlebt auch der Personenverkehr aktuell eine Renaissance. Schlussendlich stehen alle Länder vor ähnlichen Herausforderungen: ein ökologisches und effizientes Massenverkehrsmittel mit hohem Sicherheits- und Komfortniveau anbieten zu müssen. Und da landen dann alle wieder bei der Eisenbahn“, so Matthä und ergänzt: „Das Ziel muss natürlich sein, Kurzstreckenflüge sehr bald zu ersetzen und langfristig auch eine Alternative zur Mittelstrecke anbieten zu können.“
Mit 1.200 km/h durch die Röhre?
Doch wie geht es mit der schienengebundenen Mobilität mittel- und langfristig weiter? Könnte gar Elon Musk wieder zum Gamechanger werden? Seinen Hyperloop, eine luftleere Röhre, auf der eine Kabinenkapsel auf Luftkissen Passagiere von Wien nach Hamburg in einer Stunde transportieren soll, sieht Musk als Ende der klassischen Bahn an. Das bezweifeln die Experten aber. Boyer: „Aus technologischer Sicht ist das natürlich interessant. Die Frage ist nur: Was tun wir damit? Für Europa und sein dezentralisiertes System ist das eher ungeeignet.“ Nicht nur, dass man eigene Trassen bauen müsste, die Topografie macht dem einen Strich durch die Rechnung. „Ich kann zwischen Paris und Marseille mit 600 km/h schnellen Zügen fahren. Aber man wird keine eigene Trasse zwischen Wien und Innsbruck in dieser topografisch herausfordernden Landschaft bauen, um eine Stunde Zeit zu sparen.“ Das sieht auch Matthä so: „Nicht alles, was technisch möglich ist oder unter Laborbedingungen funktioniert, ist auch sinnvoll oder gut für die Menschen. Das Rad-Schiene-System erreicht realistisch bis zu 360 km/h. Der Railjet fährt bis zu 230 km/h, die heimische Infrastruktur erlaubt bis zu 250 km/h. Hochgeschwindigkeit ist auch immer mit hohen Kosten für Infrastruktur und Betrieb verbunden. So steigt zum Beispiel der Energieverbrauch mit zunehmender Geschwindigkeit überproportional an. Wir versuchen in Europa derzeit eher Energie einzusparen. Ich sehe wenig Realisierungschance für den Hyperloop & Co.“ Wie auch immer die Zukunft der Bahn aussehen wird, eines scheint bereits festzustehen. Österreichs Bahnindustrie ist nicht nur Beifahrer der klimaneutralen Mobilität, sondern hat einen Fixplatz im Steuerstand inne.