Wenn Kinder kleine Genies sein müssen
Kinder. Energiegeladen, liebesbedürftig, bereichernd. In jedem Fall eine Aufgabe, um nicht zu sagen ein Herzensprojekt, welches Verantwortungsgefühl, Geduld, Zeit, Geld und vor allem Hingabe erfordert. Während die Kleinen früherer Generationen in ihren Familien im wahrsten Sinne des Wortes einfach „mitgelaufen“ sind, wird heute ihrer Erziehung besonders große Aufmerksamkeit geschenkt. Das belegt nicht zuletzt eine beeindruckende Vielzahl an Ratgebern, Studien und Forschungen.
Test der Gesellschaft bestanden?
Die Maßstäbe, nach denen man sein Kind erzieht, sind vielfältig. Jeder Erziehungsstil ist dabei auf seine Art vollkommen individuell und einzigartig. Ist daher auch jeder gesellschaftsfähig? Mitnichten. Einmal ist die Erziehung zu streng, ein anderes Mal zu lasch, dann zu fordernd, um später genau das Gegenteil zu sein! Dem kritischen Blick auf Familien zum Trotz gilt heute als weithin anerkannt: Das Kind sollte sich entfalten können, das tun, wonach ihm ist, dabei jede erdenkliche Unterstützung erhalten und möglichst wenig Kritik einstecken müssen. Bedingungslos geliebt, solange es die oder der Beste ist. Zu viel verlangt?
Duchschnittlichkeit ertragen
Tatsache ist: Wer immer der Beste sein muss, kann sich nicht frei entwickeln. Nach außen wird freilich gerne ein anderes Bild vermittelt. Als hätte sich das Kind selbst zu Höchstleistungen angetrieben oder sei dazu naturbegabt. Man möchte fragen: Gibt es überhaupt noch Eltern, die kein hochbegabtes Kind haben? Oder sich dazu bekennen, nicht mehr sein zu wollen, einfach, weil sie es nicht können? Wohl kaum! Sieht man den ehrgeizigen Aufwand, den manche Paare im Hintergrund betreiben, bekommt man vielmehr den Eindruck, als gebe es keine größere Schmach als Eltern eines ganz „normalen“ Kindes zu sein. Eines ohne ausgeprägte geistige Fähigkeiten oder besondere Begabung. Es grenzt heute an eine Mutprobe, seinen Nachwuchs nicht auf das Gymnasium oder die Hochschule zu schicken. Durchschnittlichkeit auszuhalten, im Wissen, dass man von seinem Umfeld dafür schief angesehen wird.
Grenzen akzeptieren
Ein Prüfstein auch dann, wenn keine Bewertung von außen vorliegt. Wie weit reicht die Liebe zu seinem Kind, wenn die persönlichen Erwartungen enttäuscht wurden? Wie sehr kann man der Versuchung widerstehen, aus falsch verstandenem elterlichen Ehrgeiz Kindern Aufgaben aufzubürden, denen sie womöglich nicht gewachsen sind? Vermutlich am besten, indem man die möglichen Konsequenzen durchdenkt: Ob es dem Selbstwertgefühl auf Dauer förderlich ist, immer wieder aufs Neue die Erfahrung zu machen, dass man nicht genügt, darf bezweifelt werden. Auf die Aussage „Ich kann das nicht“ immer wieder zu hören „Du kannst es noch nicht!“ ist ab einem gewissen Maß an Frustrationserfahrung nicht mehr konstruktiv. Hingegen sehr wohl, wenn man zugestanden bekommt, dass es legitim ist, auch einmal etwas nicht zu können. Was freilich nicht bedeutet, bei schwierigeren Aufgaben grundsätzlich immer gleich aufzugeben.
Umgang mit Misserfolgen lernen
Mehr denn je geht es heutzutage um eine realistische Einschätzung dessen, was möglich ist. Und was eben nicht. Etwa als hochbegabt stilisiert zu werden, wenn man es nachweislich nicht ist. Denn Überforderung infolge von Überschätzung wirkt sich nicht minder verheerend auf die Entwicklung eines Kindes aus als das Gegenteil. Erst, wenn die Selbsteinschätzung durch Erfolgserlebnisse im Umgang mit der Außenwelt bestätigt wird, ist gesundes seelisches Wachstum möglich. Wer nicht scheitern darf, lernt auch nicht, mit Misserfolgen fertig zu werden. Doch am Ende gibt es keinen Erfolg ohne Misserfolg.
Verlieren ist okay
Wer seine Kinder beim Spielen immer gewinnen lässt, weil er meint, das Kind brauche ein Erfolgserlebnis oder würde im Falle einer Niederlage einen Aufstand machen, baut mit ziemlicher Sicherheit bereits jenem Scheitern entgegen, das er eigentlich mit allen Mitteln verhindern will. Denn sobald Kinder ihr vertrautes Umfeld verlassen, kann sie niemand mehr vor Bewertungen anderer schützen, die selten so gnädig und nachsichtig ausfallen wie jene der eigenen Familie. Am Ende aber kommt es genau darauf an: Damit umgehen zu lernen, nicht zu den Besten zu gehören. Anderen gegenüber einmal den Kürzeren zu ziehen. Zu erkennen: Verlieren mag nicht schön sein. Aber es ist okay. Eine Botschaft, die eine neue Chance für alle Beteiligten bietet: "Niemand hat dich weniger lieb, wenn du nicht die allerschwerste Schule besuchst, nicht die besten Noten heimbringst oder keine außergewöhnlichen Leistungen erzielst. Gib' einfach dein Bestes. Nicht weniger, aber auch nicht mehr."
Zur Autorin
Im Rahmen ihres Philosophie-Studiums geht Passion Author Sarah Füßlberger den Dingen gerne auf den Grund. Für www.weekend.at widmet hinterfragt sie die vielfältigen Entscheidungen, die wir Tag für Tag mit Blick auf unsere Lebensweise mehr oder weniger bewusst treffen.