Schimpfen wie ein echter Wiener
Ein echter Wiener trägt sein goldenes Herz vor allem auf der Zunge. Ob nun typischer Mundl oder Minister: Geschimpft wird in allen Schichten und Milieus – mal mehr, mal weniger öffentlich. Wie sich der goscherte und grantelnde Teil der Wiener DNA weiterentwickelt, ist sogar Gegenstand der Forschung: Oksana Havryliv von der Uni Wien untersucht mit sehr viel Verve unsere verbalen Entgleisungen.
Kraftausdrücke
Seit 2006 schaut sie uns genauer aufs Maul. Ihr Befund: Das Repertoire der Kraftausdrücke, mit dem wir unsere „liebsten“, aber auch lästigsten Mitmenschen beschallen, wächst ständig. Aktuell trägt die Pandemie das Ihre dazu bei. Die gängigsten Klassiker unter den Kraftausdrücken wie „Trottel“ und „Arschloch“ werden deshalb aber noch lange nicht abgelöst. Doch zum Idioten gesellt sich gern mal auch der „Covidiot“. Auch die Maske – „dreckiger Fetzn“ – und das nicht weichen wollende Virus selbst werden radikal und rotzfrech mit Schimpf- und Schande bedacht. Ob in Krisenzeiten mehr geflucht wird? „Ich glaube schon“, sagt Havryliv. „Verbale Aggression hat eine kathartische Funktion, mit der wir unsere negativen Gefühle, unsere Wut, aber auch unsere Unsicherheit, Angst und Hilflosigkeit abreagieren.“
Emotionale Klammer
Fluchen verbindet: So haben Schimpfwörter im Social-Media-Zeitalter schnell das Zeug zum generationenüber- greifenden Slogan, der emotionale Brücken baut und uns vor sprachlos machenden Situationen rettet. Verbale Auflehnung und flott formulierte Hashtags als stumpfe Waffe gegen Krise und Terror? Der Amoklauf in der City im vergangenen November hat gezeigt, dass der via Social Media dokumentierte Aufschrei eines einzelnen Augenzeugen Wellen schlagen kann. Die Botschaft des spontanen und viral die Run- de machenden „Schleich di, du Oaschloch“ ist für Havryliv klar: „Er hat es für viele von uns auf den Punkt gebracht: Wir in Wien halten zusammen und lassen uns nicht einschüchtern.“
Spruch des Jahres: Schleich die, du Oaschloch
Die eher vulgäre Aufforderung „Schleich di, du Oaschloch“ hat dadurch einen kompletten Deutungswandel erfahren. Unwort des Jahres wurde übrigens die anrüchig-verbotene „Corona-Party.
Aggressionsturbo
Die locker sitzende spitze Zunge ist laut der Linguistin aber auch ein zweischneidiges Schwert: Denn verbale Empörung ist beileibe nicht nur ein emotionaler Blitzableiter, ob im trauten Kreis oder im öffentlichen Raum. Oft leite verbale Aggression physische Gewalt ein oder führe zu körperlicher Aggression – in den privaten vier Wänden oder auf der Straße, wie die jüngsten Corona-Demos gezeigt hätten. Besonders auch bei den Jungen seien verbale Ausrutscher manchmal eine gefährliche Einstiegsdroge, weitere Eskalationsschritte die Folge.
Deutscher Einschlag
Ein herzhaftes „Schleich di“ kommt dem Nachwuchs allerdings immer seltener über die Lippen. Havryliv zufolge sind Deutschlandismen weiter auf dem Vormarsch. Eine aktuelle Umfrage unter Schülern aus 2018/2019 zeigt, dass die aggressive teutonische Aufforderung „Verpiss dich“ drei Mal häufiger in Gebrauch war als das österreichische „Schleich di“. Zehn Jahre zuvor habe eine erste Studie noch ein genau umgekehrtes Ergebnis geliefert.