Gedanken zur aktuellen Protestkultur
Weekend: Was zeichnet globale Protestbewegungen wie „Me too“, „Fridays for Future“ oder „Black lives Matter“ aus?
Klaus Schönberger: Moderne Protestbewegungen weisen einen projektähnlichen Charakter auf und korrespondieren in gewisser Weise mit dem Wesen der heutigen Arbeitswelt. Sie setzen sich aus heterogenen Mitgliedern zusammen, die sich ihnen temporär anschließen und die ihre Lebensweise in der Regel nicht dauerhaft nach ihnen ausrichten. Ihre Botschaften sind entweder von lokaler, aber zunehmend auch von globaler Bedeutung. Außerdem verweigern sie sich oftmals klassischen Organisationsstrukturen und bestimmen daher etwa keine offiziellen SprecherInnen, da ihre Anliegen nicht zu Repräsentationsbühnen der Selbstinszenierung verkommen sollen.
Weekend: Welche Rolle spielen die Medien für die Wahrnehmung und Mobilisierung der jeweiligen Gruppierungen?
Klaus Schönberger: Da für sehr junge Menschen traditionelle Medien noch keine große Rolle spielen, findet die Mobilisierung fast ausschließlich in den Sozialen Netzwerken statt. Die Wirkung der jeweiligen Protestbewegung auf die Öffentlichkeit wird ebenfalls immer stärker von diesen Kanälen bestimmt. Klassische Medien kanalisieren jedoch nach wie vor, worüber berichtet wird und was als berichtenswert angesehen wird, wodurch sie einer Bewegung und deren Anliegen Relevanz verleihen und immer noch einen hohen Stellenwert genießen.
Weekend: Diese neue Protestkultur wirkt jedoch oftmals auch ein wenig oberflächlich. Wie nachhaltig ist ihr Wirkungsgrad?
Klaus Schönberger: Einen nachhaltigen Effekt im klassischen Sinn können diese Bewegungen in der Tat nicht mehr erzielen. Sie erzeugen jedoch ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für bestehende Ungerechtigkeiten und treten spontan immer wieder in Aktion, solange selbige nicht behoben wurden. Ferner verfolgen sie eine zeitgemäße Vorstellung von Nachhaltigkeit, indem sie auf einer Mikroebene, etwa in der Familie, der StudentInnenen-WG oder am Arbeitsplatz auf ihr Umfeld einwirken und Diskussionen in Gang setzen.
Weekend: Widerspruch wird von nahezu keiner Protestbewegung geduldet – sind sie daher nicht auch sehr intolerant?
Klaus Schönberger: Minderheiten argumentieren oftmals intolerant, da ein Annehmen der Ideen der Mehrheit ihre Benachteiligung verfestigen und somit Veränderungen im Denken unmöglich machen würde. Nur durch ein Beharren auf ihren Forderungen können sie langfristig eine Veränderung der Machtstrukturen bewirken. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass sie VertreterInnen der von ihnen kritisierten Gruppen pauschal verurteilen. Es wäre daher wichtig, Diskussionen auf Augenhöhe zu politischen und gesellschaftlichen Strukturreformen zu führen.
Weekend: Brauchen wir nicht eine neue Streitkultur, die an einem echten Dialog interessiert ist?
Klaus Schönberger: Ich bin immer ein Fan davon, Andersdenkende als DebattengegnerInnen und nicht als Feinde zu begreifen. Das Debattieren muss jedoch am Ende gerechtere Verhältnisse mit sich bringen, da es andernfalls als zwecklos wahrgenommen wird. Es muss also eine echte Chance auf Veränderung durch einen Dialog bestehen. Es darf nicht nur deshalb diskutiert werden, damit schlussendlich alles beim Alten bleibt oder bereits getroffenen Entscheidungen legitimiert werden.
Weekend: Was wird die nächste große Protestwelle zum Inhalt haben?
Klaus Schönberger: Ich würde mich über eine soziale Bewegung freuen, die sich Fragen zur Arbeit und ihrer Verteilung im digitalen Zeitalter annimmt. Ich fürchte jedoch, dass es eine neue Friedensbewegung brauchen wird, um auf die vielen nach wie vor tobenden globalen militärischen Konflikte eine Antwort zu finden.