Nahost-Experte: „Es drohen neue Unruhen“
Teure Lebensmittel, hohe Spritpreise, unsichere Gasversorgung: Der Krieg in der Ukraine bleibt nicht ohne Folgen für Europa, hat aber mit Fortdauer katastrophale Auswirkungen auf andere Weltregionen und Staaten. Zum Beispiel auf Ägypten. Das Land am Nil ist der größte Weizenimporteur der Welt. Rund 80 Prozent des eingeführten Getreides kommen aus der Ukraine und aus Russland, „vor allem auch deshalb, weil die Transportwege über das Meer billig sind“, sagt der deutsch-ägyptische Journalist Karim El-Gawhary. Doch damit ist es seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vorbei. Odessa und Mariupol, die wichtigen ukrainischen Hafenstädte am Schwarzen Meer, sind blockiert und damit stecken auch die 300.000 Tonnen Weizen fest, die Ägypten noch vor der dem Ausbruch des Ukrainekonflikts gekauft hat. Die Weizenreserven reichen noch vier Monate, sagt El-Gawhary, der wegen steigender Lebensmittelpreise neue Unruhen in Nordafrika befürchtet. "Wenn die Leute mit dem Rücken zur Wand stehen, werden sie nicht mehr abwarten, was als nächstes passiert. Sie werden auf die Straße gehen", sagt der ORF-Korrespondent in Kairo, der durch seine Live-Berichterstattung von den Ereignissen der ägyptischen Revolution von 2011 bekannt geworden ist. Der sogenannte "Arabische Frühling" wurde brutal niedergeschlagen und brachte die Militärdiktatur unter dem amtierenden Präsidenten Abd al-Fattah as-Sisi durch einen Putsch 2013 an die Macht. "Die Probleme, warum Menschen vor mehr als zehn Jahren auf die Straße gegangen sind, haben sich noch verschärft", sagt der Autor von "Repression und Rebellion: Arabische Revolution - was nun?".
Unruhen in Ägypten haben Auswirkungen auf Europa
Ägypten ist das bevölkerungsreichste Land in der arabischen Welt und ein soziales Pulverfass. Die steigenden Preise am Getreideweltmarkt könnten die Lunte für eine neue Revolte entzünden, die Auswirkungen auf Europa haben wird, glaubt El-Gawhary. Der MATIF-Weizenpreis an der Pariser Terminbörse stieg von 264 Dollar pro Tonne Anfang Februar auf aktuell 438 Dollar. Lebensmittelpreise waren in Ägypten immer schon eine politisch sensible Angelegenheit. 1977 hatte Präsident Anwar Sadat (1918-1981) versucht, die staatlichen Subventionen für Brot zu kürzen, was zu Aufständen mit vielen Toten führte. Heute beziehen etwa 60 Prozent der ägyptischen Bevölkerung "Brotkarten" und können damit staatlich subventioniertes Fladen-Brot kaufen. Ein Drittel der 100 Millionen Ägypter hat weniger als zwei Euro pro Tag zur Verfügung. Während in Österreich die Haushalte rund zehn Prozent des verfügbaren Einkommens für Essen ausgeben, gehen in Ägypten rund 40 Prozent des Haushaltseinkommens für die Nahrung auf. „Ich habe mit vielen Leuten in den letzten Wochen gesprochen, die gesagt haben, sie arbeiten nur noch, um zu essen. Die Preissteigerungen treffen auf eine Situation, wo viele Leute ohnehin mit dem Rücken zur Wand stehen und keine finanzielle Manövriermasse haben. Das ist der Unterschied zu Europa“, sagt El-Gawhary. Rund 40 Prozent der Menschen in den arabischen Ländern Afrikas drohen in die Armut abzurutschen. Eine Mittelschicht existiert in Ägypten fast nicht mehr.
Die arabischen Autokraten sind die denkbar schlechtesten Verwalter von Krisen und nirgendwo ist die Verteilung von Vermögen so ungleich.
Eine Ansammlung von gescheiterten Staaten
Die absolute Armut ist in allen Regionen der Welt in den letzten Jahrzehnten gesunken – außer in der arabischen Welt, die eine Ansammlung von gescheiterten Staaten ist, sagt El-Gawhary. Ein wesentlicher Grund: „Die arabischen Autokraten sind die denkbar schlechtesten Verwalter von Krisen und nirgendwo ist die Verteilung von Vermögen so ungleich.“ Macht sich der technische Fortschritt in der Landwirtschaft, etwa bei der Bewässerung von Wüstenabschnitten, bemerkbar? Nur zum Teil sagt der Nahost-Experte. Die landwirtschaftliche Fläche Ägyptens ist nur etwa halb so groß wie Österreich. „Es wird zwar jährlich landwirtschaftliche Fläche gewonnen, aber mehr wieder verloren, weil auf landwirtschaftlichem Boden gebaut wird.“ Die Bevölkerung wächst um 1,5 Millionen Menschen jährlich. "Das kann man nicht mit der eigenen Weizenproduktion stemmen", sagt El-Gawhary. Der Bausektor sei die Boom-Industrie schlechthin in Ägypten – „und eine Blase“. Präsident as-Sisi baut nicht nur „relativ planlos“ Straßen und Brücken, sondern gleich eine neue Hauptstadt. Immobilien sind beliebt: Ägypter tragen ihr Geld nicht auf die Bank, sondern investieren es in Wohnhäuser. Für ein Land mit 100 Millionen Einwohnern, produzieren die Ägypter erstaunlich wenig selbst. Die wichtigsten Einnahmequellen des Staates sind Zahlungen von Ägyptern, die im Ausland arbeiten, Öl- und Gas-Förderungen, Tourismusindustrie und Einnahmen aus dem Suezkanal.
Zur Person: Karim El-Gawhary, seit 1991 Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Zeitungen, seit 2004 Leiter des ORF-Nahostbüros in Kairo. Zuvor fünf Jahre als Vertreter des ARD-Rundfunkstudios in Kairo tätig. 2011 erhielt er den „Concordia Presse-Preis“, 2012 wurde er zum Auslandsjournalisten des Jahres gewählt, 2013 zum Journalisten des Jahres in Österreich, 2018 erhielt er den Axel-Corti-Preis. Seine bisher erschienenen Bücher waren alle Bestseller. Zuletzt erschien Repression und Rebellion: Arabische Revolution – was nun?