In der Falle? Wieso wir nicht perfekt sein können
"Die Krankheit unserer Zeit ist der Perfektionismus." Diese Worte von Konrad Adenauer, dem ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, haben auch heute, rund 66 Jahre später, nicht an Relevanz verloren. Der Drang nach Perfektion ist eines der grundlegendsten Probleme des 21. Jahrhunderts. Er nährt Selbstzweifel, schmälert Zufriedenheit und kann sich im schlimmsten Fall sogar negativ auf die körperliche Gesundheit auswirken. Doch woher kommt dieses Bedürfnis nach dem perfekten Leben?
Perfekt statt defekt
"Perfektionismus ist nichts anderes als das Verstecken von Makeln. Der Zwang zur Perfektion tritt an die Stelle des verlorenen Selbstwerts", erklärt Psychotherapeutin und Life Coach Lisa Wimmer. Apropos Zwang: Perfektionistisches Denken und Handeln bilden eine Subkategorie von Zwangsstörungen. Das Ziel? Die komplette Kontrolle. Rund 200.000 Österreicher, also zwei bis drei Prozent, erkranken einmal in ihrem Leben an einer Zwangskrankheit. "Kontrolle ist immer da, wo Angst das Leben bestimmt", schildert Wimmer die Situation.
Die liebe Tochter
Angst braucht auch einen Nährboden. Dieser findet sich, laut der Therapeutin, oft in der Erziehung, vor allem bei Mädchen. Auf die Frage, ob Frauen öfter unter Perfektionismus leiden, antwortet Wimmer mit einem klaren "Ja". Buben dürfen dreckig, laut, frech und mutig sein. "Mädchen hingegen werden von Anfang an perfektionistisch erzogen. Sie sollen angepasst und gewissenhaft sein, das führt zu einer größeren Empfänglichkeit für ein pedantisches Verhalten", meint die Expertin. Das erklärt auch, wieso Frauen in vielen Familien oder Partnerschaften noch immer für den Haushalt, die Erziehung der Kinder oder alltägliche Banalitäten wie das Einkaufen von Lebensmitteln verantwortlich sind. Sie legen mehr Wert auf diese Dinge und haben das Gefühl, bei allem ständig den Überblick behalten zu müssen. Vom Staub in der Wohnung bis zum vollen Kühlschrank.
Der grandiose Sohn
Das soll übrigens nicht heißen, dass Männer nicht auch unter perfektionistischen Zügen leiden. Das tun sie durchaus, es äußert sich nur auf andere Art und Weise. "Es ist die klassische Geschichte des großen Mannes, der sein Talent sowie Hab und Gut, beispielsweise ein teures Auto, gerne zur Schau stellt. Dieses Phänomen nennt man Grandiosität. Auf der anderen Seite steht die Frau, die die Abwesenheit dieses Gefühls mit Perfektionismus kompensiert", so Wimmer. Während Männer sich oft über Leistung definieren, tun Frauen dies über ein geordnetes und korrektes Leben. Deswegen existiert auch folgender prägender Spruch, den wahrscheinlich alle Frauen kennen:" Bevor der andere es falsch macht, mache ich es selbst."
Sie hat es besser
Frauen legen sich mit dieser Sichtweise jedoch selbst einen Stein in den Weg. Und zwar einen ziemlich großen. Das eigene Leben wird zwar aktiv in die Hand genommen, die helfende Hand einer anderen Person aber meist gemieden. Während Frau sich also in einem Teufelskreis dreht und versucht, den eigenen hohen Ansprüchen gerecht zu werden, verliert sie sich eigentlich immer mehr. Das Problem dabei? Es wird viel zu selten darüber gesprochen. "Freundinnen treffen sich und jede prahlt mit dem, was sie hat oder kann. Doch eine Freundschaft hat wenig Nutzen, wenn man sich nicht offen und ehrlich untereinander austauschen kann", sagt die Expertin. Stattdessen wird nur die Sehnsucht nach dem Leben der anderen gestärkt. "Sie hat es besser", "sie hat ein schöneres Leben", "sie ist erfolgreicher" - diese Gedanken ziehen einen selbst runter und sorgen für Unzufriedenheit.
Insta-Falle
Und dann gibt es da noch die sozialen Medien, allen voran Instagram, in denen uns eine perfekte Welt voller schöner Dinge vorgelebt wird. Die Menschen in den Videos und Fotos scheinen das ideale Leben zu führen - ständig auf Reisen, immer in den neuesten Outfits, immer glücklich. Sie führen funktionierende Beziehungen ohne Streit, erfüllen sich Lebenstraum nach Lebenstraum und können im Meer schwimmen, während wir am Schreibtisch sitzen. Neid, ein allgemeines Unwohlsein und der Drang, ein ähnlich perfektes Leben führen zu wollen, sind natürlich bei den Nutzern der App vorprogrammiert. Doch oft wird vergessen, dass ein Schein nicht automatisch auch einen ist-Zustand bedeutet. Heißt: Instagram zeigt die schönen Seiten des Lebens, nicht die traurigen, dunklen oder realen. Das Gute daran: Wie so oft im Leben haben wir unser Glück selbst in der Hand. Wer also merkt, dass die Stories und Fotos von gewissen Bloggern oder Influencern schlecht für das eigene (psychische) Wohlbefinden sind, kann einfach auf "nicht mehr abonnieren" klicken. "Instagram und Co. kann auch gesund gelebt werden, indem man nur den Menschen folgt, die einem ein gutes Gefühl geben", sagt Wimmer. Und im schlimmsten Fall: radikal sein, die App für ein paar Tage löschen und durchschnaufen. Und zukünftig die Screen-Zeit auf ein tägliches Maximum reduzieren.
Prince perfect
Während perfektionistische Züge das Leben in vielerlei Hinsichten erschweren, leider vor allem zwischenmenschliche Beziehungen darunter - besonders romantische. Denn wenn man sich selbst keine Fehler erlaubt, darf auch der Partner keine machen oder haben. Doch Makellosigkeit existiert nur im Märchen und nicht in der Realität. Dieser Zwang wird dem Partner auf Dauer zu schaffen machen, für Konflikte und im schlimmsten Fall auch eine Trennung sorgen. Es gilt also, diesen Anspruch auf Perfektion aus der Beziehung, generell aus dem Leben, zu verbannen. Denn Liebe und Ideale haben noch nie zusammengepasst.
Das Universum lässt keine Perfektion zu. - Stephen Hawking, Physiker
Zum Scheitern verurteilt
Wer nach dem perfekten Leben strebt, wird scheitern. Das klingt hart, ist aber eine Tatsache. Denn: Was oder wer ist schon perfekt? Die Antworten, also "nichts und niemand", dürften jedem bekannt sein. Doch wie gelingt einem der Ausstieg aus dem Hamsterrad? "Mein einfachster Rat ist, dem Leben mit Humor zu begegnen. Was ist das Schlimmste, das mir passieren kann, wenn ich nicht perfekt bin? Über diese Frage kann man einmal nachdenken", rät die Psychotherapeutin. Der spanische Maler und Vertreter des Surrealismus, Salvador Dali, sagte einmal: "Hab keine Angst vor der Perfektion - du wirst sie nie erreichen." Mit diesem Zitat im Hinterkopf lebt es sich doch gleich viel entspannter, oder? Eine Antwort bräuchten wir aber noch: Gibt es dieses sogenannte "perfekte" Leben denn überhaupt? "Ja, wenn man in einem unperfekten Leben glücklich sein kann", erklärt Lisa Wimmer. Streben wir also mehr nach Glück und weniger nach Idealen.