Wie ich durch unschöne Selfies schöner wurde
Die „Selfie-Manie“ ist in allen Gesellschafts- und Altersschichten angekommen. Die Pose und der Gesichtsausdruck sind gut eingeübt - eine gelungene Präsentation des eigenen Ich. Dann noch ein paar Filter darübergelegt, und fertig ist die perfekte Wiedergabe. Niemand möchte ein suboptimales Foto von sich sehen, also wird es auch sofort gelöscht. Bis zu jenem Tag ...
Das verhängnisvolle Foto
Unter meinen Freunden ist ein Mann, der wenig redet, dafür aber andauernd fotografiert – das Essen, den Sonnenuntergang, die Menschen. Für einige seiner Fotos posieren wir dann immer wieder in bewährter Manier. Aber irgendwann wollen wir uns einfach in Ruhe unterhalten. Und er - fotografiert weiter.
Damit nicht genug, schickt er uns dann immer alle Fotos in die Gruppe, ohne sie zu veröffentlichen. Der pure Horror, als ich die letzten sah: O Gott, das Doppelkinn, die gebückte Haltung, die dick nachgezogenen Augenbrauen, der knallrote Lippenstift, das neue Kleid – das soll ich sein? Einfach schrecklich. Unpassend. Absolut hässlich. Sofort löschen.
Und dann wieder sind Fotos darunter, da finde ich mich schön, obwohl ich doch dieselbe Frau wie auf den "Horrorfotos" bin. Aber wie es nun mal so ist, prägen sich die misslungenen Fotos ohne Filter tiefer ins Gedächtnis ein als die gelungenen.
Der erste Schritt zur Selbstoptimierung
Und dann hole ich die Horrorfotos wieder aus dem Mistkübel meines Computers hervor und lege sie in einem Foto-Ordner ab, der den Namen „Selbstoptimierung“ trägt. Denn insgeheim weiß ich: Nur sie bieten mir die Chance, mein Aussehen „filterlos“ zu verbessern. Angefangen von der schlechten Körperhaltung, die das Doppelkinn erst ermöglicht, bis zu Styling-Fehlern sagt mir das Bild mehr als tausend Worte. Mehr als der Blick in den Spiegel, als mir das groß gemusterte Kleid noch supergut an mir gefallen hat. Vielleicht, weil ich damals „nur“ auf das Kleid als solches geachtet hatte, und nicht, ob es auch an mir zur Geltung kommt? Vielleicht, weil ich jemand sein wollte, der ich gar nicht bin? Zum Beispiel ein wenig wie die supertolle Influencerin auf Instagram, der das Kleid wunderbar steht. Wie ist es dazu gekommen, frage ich mich.
Der trügerische Blick in den Spiegel
Möglicherweise sind wir über die Jahre an unser Spiegelbild mit allen Schwachstellen zu sehr gewöhnt. Anders gesagt – wir sehen vielleicht die ungleichen Augenbrauen, die schiefe Lippe aber schon nicht mehr. Erst recht nicht das Doppelkinn, weil da müssten wir seitlich zum Spiegel stehen und uns gleichzeitig drehen, um es überhaupt erkennen zu können. Zudem sehen wir uns „spiegelverkehrt“ auf dem Foto, also so, wie andere Menschen uns ständig sehen, und das erscheint uns ungewohnt und fremd.
Mere-Exposure-Effekt
Ich setze mich an die Suchmaschine und stolpere über den Begriff "Mere-Exposure-Effekt": "Mit Mere-Exposure-Effekt bezeichnet man in der Psychologie den Befund, dass allein die wiederholte Wahrnehmung einer anfangs neutral beurteilten Sache ihre positivere Bewertung zur Folge hat. Zum Beispiel lässt die Vertrautheit mit einem Menschen diesen attraktiver und sympathischer erscheinen", erfahre ich aus Wikipedia.
Das Foto als neues Spiegelbild
Im Wissen um dieses Phänomen wende ich meinen Blick von meinem Spiegelbild hin zu dem Foto, das vor mir liegt, und betrachte mich unverstellt. Es ist nicht zu leugnen, dass mir großgemusterte, bunte Kleider einfach nicht stehen - das bin nicht ich. Das weiß ich zwar schon lange Zeit, warum also trage ich sie? Die Augenbrauen male ich mir seit gefühlten hundert Jahren gleich nach, ich könnte es auch ohne Spiegel. Aber steht es mir noch? Ich drucke das Horrorbild aus und zeichne unterschiedliche neue Augenbrauenformen darauf, dann probiere ich die beste Variante im Gesicht aus, mache ein Selfie und drucke es wieder aus. Voilà!
Genauso mache ich es an einem verregneten Sonntag mit meiner Lippenstiftsammlung. Ich wundere mich über mich selbst: Wie konnte ich mir diese Farbe bloß antun? Ich schwöre mir: Bevor ich jetzt neue Schminksachen kaufe, probiere ich sie, mache ein Selfie und schau' mir das Ergebnis von der „anderen“ Seite an.
Alles eine Frage der Haltung
Eine Offenbarung ist das Horrorfoto, was meine Körperhaltung betrifft. Ich habe gelernt, dass sich unser Körper aus der Mitte heraus aufrichten und bewegen sollte. Denn rund um den Nabel liegt unser Energiezentrum, das uns nur dann in vollem Umfang zur Verfügung steht, wenn wir unserer Haltung Rechnung tragen. Umgekehrt strecken wir uns automatisch durch, wenn wir uns dessen bewusst sind. Es zahlt sich also aus, unsere Mitte (Wurzelchakra) zu stärken. Ganz zu schweigen davon, dass damit wie von selbst einige Wehwehchen verschwinden.
Was uns das Spiegelbild verrät
Im Grunde bin ich diesen Horrorfotos dankbar. Ohne sie hätte ich mein äußeres Erscheinungsbild wohl keiner so kritischen Überprüfung und in weiterer Folge Verbesserung unterzogen. Das Spiegelbild ist nicht unwichtig geworden, es lenkt meinen Blick jetzt nur auf andere Dinge. Die wunden Punkte, die sich in unser aller Mienenspiel abzeichnen. Probleme, die wir vielleicht schon lange mit uns herumschleppen, aber verdrängen. Das alles bekommen wir buchstäblich gespiegelt - nicht nur von unserem Anblick, sondern auch unseren Mitmenschen. Darin liegt die Chance, uns auch einer inneren Selbstoptimierung zu unterziehen.
Ich mache den ersten Schritt und stelle mir folgende Fragen:
- Bin ich gut zu mir?
- Achte ich auf mich?
- Kann ich mich auf mich verlassen?
- Fühle ich mich als Opfer oder kann ich mich nur nicht entscheiden?
Innere Selbstoptimierung
Ich merke, wie bereits Bewegung in meine Gedanken und Gefühle kommt, allein dadurch, dass ich mir diese Fragen stelle. Ob nach der gelungenen äußeren Selbstoptimierung nun auch die innere glückt? Ich hab' ein gutes Gefühl.
Was ein Foto verändert
Entspannt kann ich lächeln. Attraktiver aussehen und ein besserer Menschen werden. Und das alles im Grunde nur, weil ein Freund von mir ein misslungenes Foto gemacht hat. Was für ein Glücksfall.
Zur Autorin
Mit ihren wohl überlegten Gedanken und praktischen Tipps liefert die in Wien lebende freie Autorin Valerie Vonroe wertvolle Anstöße für einen bewussteren Umgang mit den eigenen Potenzialen und Ressourcen – in jedweder Hinsicht.