Thomas Sattelberger: "Krisen sind heilsam"
Die Diagnose der Blattmacher ist eindeutig: „Die deutsche Wirtschaft schmiert ab“ (Spiegel), „Agenda gegen den Abstieg“ (Handelsblatt), „Deutschland wieder kranker Mann Europas“ (The Economist), „Der Abstieg einer Wirtschaftsmacht“ (Neue Zürcher Zeitung). Zwei Jahrzehnte nach der Arbeitsmarkreform Agenda 2010 wird Deutschland wieder als Sanierungsfall gehandelt. Der Internationale Währungsfonds rechnet für heuer und im kommenden Jahr maximal mit einem Wachstum von durchschnittlich 0,5 Prozent. Damit hat Deutschland die rote Laterne, abgehängt von der Konkurrenz wie den USA, Japan oder Frankreich. Wie schlimm es um unseren Nachbarn steht, ist für Österreich keine unwesentliche Frage. Kaum eine andere Volkswirtschaft ist stärker mit Deutschland verwoben. CHEFINFO sprach mit dem Ex-Top-Manager und Politiker Thomas Sattelberger, 74. Er gilt als ein guter Kenner der deutschen Wirtschaft und des Politbetriebs im Deutschen Bundestag. Der frühere Personalvorstand der Continental AG und Telekom AG ist seit 2012 im „aktiven Unruhestand“ und war bis Mitte 2022 Staatssekretär für Bildung und Forschung (FDP). Sattelberger lebt in München und hat gerade ein neues Buch geschrieben, in dem er mit der Leistungskultur in Deutschland abrechnet.
CHEFINFO: Herr Sattelberger, Ihr Buch heißt „Radikal neu: Gegen Mittelmaß und Abstieg in Politik und Wirtschaft“. Haben Sie nach den vielen Niederlagen deutscher Mannschaften nicht den Sport vergessen?
Thomas Sattelberger: Sie haben recht, das geht oft Hand in Hand. Erfolge oder Misserfolge im Sport werden häufig auch als Symbolik benutzt für die Erfolge und Misserfolge einer Nation. Dass wir bei den Leichtathletik-Meisterschaften, eine unserer Kerndisziplinen, keine einzige Medaille gewonnen haben, ist vielsagend. Die Bundesjugendspiele sollen im kommenden Jahr ohne Wettbewerbe, also ohne Sieger und Verlierer, stattfinden. Für mich sind das Symptome einer spätrömischen Dekadenz.
Was stimmt mit der deutschen Leistungskultur nicht mehr?
Sattelberger: Ich habe ja schon mal vor Jahren gesagt, dass die Work-Life-Balance-Soße sich wie ein zäher Schleim über dieses Land ergießt. Arbeit wird als etwas wahrgenommen, das schlecht für die Gesundheit sein soll. Das ist keine neue Erkenntnis, sondern eine, die ich über die letzten Jahre in intensiver Auseinandersetzung gewonnen habe: Die Verwahrlosung der Politik geht einher mit einer Verwahrlosung der Leistungskultur und mit einer Innovations- und Leistungsarmut der Wirtschaft.
Ein Vertreter der Generation Z würde Ihnen da wohl widersprechen.
Sattelberger: Das Geschwätz um die Generationen von X bis Z ist reine Geschäftemacherei, bei der die Differenziertheit der jeweiligen Jugendgeneration übersehen wird. Erst vor Kurzem führte ich eine harte Diskussion mit einem renommierten Gen-Z-Anhänger und -Propagandisten. Ich habe ihm gesagt, dass wir die sozialen Früchte erst dann ernten können, wenn wir unsere technologische und digitale Transformation erfolgreich geschafft haben.
Wie konnte es so weit kommen, dass man von Deutschland wieder als kranken Mann Europas spricht?
Sattelberger: Es gab schon sehr lange Frühwarnsignale. Die Expertenkommission Forschung und Innovation hat bereits seit 2012 die immer stärker werdende Innovationsarmut des Mittelstandes adressiert. Übrigens auch die Innovationsschwäche der Konzerne. Das darf man nicht vergessen.
Man denkt an die bekannten Namen der Automobilindustrie – sind sie Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden?
Sattelberger: Das ist nicht nur ein Thema der Automobilindustrie. Mehr als zwei Drittel unserer Hidden Champions sind älter als 60 Jahre. Verstehen Sie mich nicht falsch: Dieses Alter zu erreichen ist großartig, aber es kommen keine jungen Unternehmen nach. Viele deutsche Mittelständler sind nur in einer Branche mit einem Produkt unterwegs. Bis 2019 hieß der Exportweltmeister Deutschland. Das war wie Opium. Erfolg macht süchtig und Erfolg macht blind. Der Blick auf Risiken und auf die Herausforderungen, aber auch das Gefühl, dass es einmal einen Worst Case oder einen Best Case geben kann – das haben viele Firmen verloren.
Ist das in Österreich nicht auch ähnlich gelagert?
Sattelberger: Österreich steht mit der Exportwirtschaft, dem Tourismus und der Landwirtschaft auf drei Beinen. Das ist der Unterschied. In Deutschland gibt es überwiegend die Automobilwirtschaft und ihre Zulieferer, die verarbeitende Industrie und ein bisschen Chemie. Nationen sollten eigentlich
Standbeine und Spielbeine haben. Die Schweiz ist beispielsweise in den Bereichen Pharma, Industrie und Biotech so gut aufgestellt, dass sie das Einknicken in der Finanzbranche passabel übersteht. Dagegen steht Deutschland wirtschaftlich nur auf einem Bein.
Eines Ihrer Schlagworte im Buch lautet „Fokus statt Perfektion“. Sollen wir von den Amerikanern lernen?
Sattelberger: Die US-Amerikaner sind Marketinggenies, weil sie ihre halb fertigen Produkte auf den Markt werfen und dort perfektionieren. Wir haben dieses Vorgehen während der Coronazeit gelernt, nämlich eine Impfstoffentwicklung dramatisch zu verkürzen und mit gewissen Unfertigkeiten umgehen zu lernen. Diese Fähigkeit machen wir uns offensichtlich nur dann zu eigen, wenn uns das Wasser bis zum Hals steht.
Welchen Anteil hat die Berliner Ampelregierung am jetzigen Zustand?
Sattelberger: Ich habe in meinen 40 Jahren Führungstätigkeit in der Wirtschaft, davon 15 Jahre als Vorstand, schlimme Phasen erlebt: die Terroranschläge vom 11. September in New York während meiner Zeit bei Lufthansa, die Schuldenkrise bei Conti und die dramatische Sanierung der Telekom in den Jahren 2007 bis 2009. In diesen großen Krisen waren zwei Dinge kriegsentscheidend: Leadership und Glaubwürdigkeit im Handeln. Kanzler Olaf Scholz, der noch vor ein paar Monaten vom kommenden Wirtschaftswunder und dem Doppel-Wumms gesprochen hat, müsste jetzt Führungsstärke beweisen – aber er hüllt sich zu wichtigen Themen in Schweigen. Dafür machen wir uns mit einer stümperhaften Politik rund um Robert Habecks Heizungsgesetz zur Lachnummer. Christian Lindner schätze ich sehr, aber er steht zum Teil auf verlorenem Posten und kann nur versuchen, das Schlimmste zu verhüten.
Wie kriegt Deutschland noch die Kurve, fragt der „Spiegel“. Hat es Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 nicht besser gemacht?
Sattelberger: Schröder hat ähnlich wie Scholz jahrelang eine Politik der ruhigen Hand praktiziert. Wir hatten damals neun Millionen Arbeitslose und es gingen fast zehn Jahre ins Land, bis etwas passierte. Ähnlich war es mit der Krise in England: Es brauchte eine Dekade, bis Margaret Thatcher kam und Reformen einleitete. Wenn wir uns diese Zeiträume ansehen, ist es gut möglich, dass wir noch länger durch ein Tal der Tränen gehen müssen, bis etwas passiert. Krisen sind heilsam, das ist meine tiefe Erfahrung aus der Wirtschaft. Wir haben die Krisen bei Conti und Telekom gemeinsam bewältigt und standen danach sehr gut da.