Soziale Medien - ich like dich nicht mehr
Überlange, schlapp hängende Pullover, Baggy Jeans und Retro-Sneaker. Wer heute junge Menschen sieht, könnte denken, er sei in den 1990ern gelandet. Bei manchen sind sogar die Mobiltelefone im 90er-Style. Ein Trend, der aus Dänemark kommt und sich „Dumbphone“ nennt, also das Gegenteil eines Smartphones ist, sprich „offline“ ist. Im Sommer 2024 wird sogar ein „dumbes“ Barbie-Klapptelefon auf den Markt kommen. Mattel und der finnische Hersteller HMD surfen mit einem pinken glitzernden NOKIA Mobiltelefon auf der Trendwelle. Diese Strategie wird von Umfragen untermauert: 38 Prozent der 16- bis 24-Jährigen geben an, zu viel Zeit mit sozialen Medien zu verbringen. Ein Drittel der Gen Z möchte seinen Konsum deutlich reduzieren. Das Konstrukt – MHD nennt es „kulturelles Phänomen“ – des FOMO, also der Angst, etwas zu versäumen, bricht in sich zusammen.
Die neuen Maschinenstürmer
Auf die Spitze treiben dies Digital Natives in den USA. Sie nennen sich „Neo-Luddites“ oder „Luddite-Club“. Die Ludditen waren einst auch als Maschinenstürmer bekannt. 1811 waren es Textilarbeiter aus Nottingham, die eine industrielle Konterrevolution anführten. Sie zerstörten Textilmaschinen, die ihre Jobs zerstörten. Die Bewegung breitete sich so weit aus, dass in England „Maschinenstürmerei“ zum Kapitalverbrechen erklärt wurde. Für fortschrittsgläubige Ideologien wie Liberale oder Sozialisten wurden Luddisten als rückschrittlich reaktionär gebrandmarkt. Die jungen Neo-Luddisten von heute stürmen keine Maschinen, sondern sie verweigern einfach Teile der digitalen Revolution. Sie legen Platten auf, statt Spotify zu streamen, und fotografieren analog, statt digital.
Interaktionen sinken rapide
Entstanden ist der Trend ausgerechnet in den sozialen Netzwerken. Und es könnte ein Wendepunkt in deren Erfolgsgeschichte sein. HMD und Mattel rechnen vor: Vom ersten Quartal 2021 bis heute ist der Austausch zwischen Freunden in sozialen Medien um 13 Prozent gesunken. Die persönliche, „analoge“ Interaktion aber um 28 Prozent gestiegen. Das bestätigt einen Trend, den auch die IT-Consultinggruppe Gartner sieht. Laut Gartner sollen die Plattformen ab 2025 erstmals deutlich User verlieren. Das Wachstum der Userzahlen in sozialen Medien wurde in den letzten Jahren vor allem durch ältere Nutzer erzielt. Auch bei diesen Zielgruppen prophezeit Gartner eine Trendumkehr. 53 Prozent der User glauben daran, dass soziale Medien an Relevanz einbüßen könnten. Grund dafür sind immer mehr Bots, der Einsatz von KI, Fake-News und die geringere Relevanz der eigenen Posts. Fehlen die Likes unter dem fotografierten Abendmahl, fehlt die Motivation, eigenen Content zu erstellen. Für Otto Normaluser wird es schwieriger, sichtbar zu werden. Hochglanzcontent und bezahlte Profi-Influencer stehlen ihm die Show. Und das zeigt sich an den Interaktionen. Lag vor vier Jahren die Bereitschaft der User, ihr Leben auf den Plattformen zu teilen, also zu interagieren, bei 40 Prozent sind es jetzt nur noch 28 Prozent.
Asoziale Medien?
Ein Faktor ist der Einsatz von KI. 70 Prozent der Social-Media-Nutzer sehen KI als Gefahr für die Plattformen. 72 Prozent aller Konsumenten misstrauen KI-basiertem Content. Gartner sieht daher „Acoustic Brands“ im Trend, also Marken, die ganz bewusst auf den Einsatz von KI verzichten könnten. Bis 2027 rechnet Gartner damit, dass sich rund 20 Prozent aller Marken „KI-frei“ positionieren könnten. Dazu trägt auch die Rolle der sozialen Medien – Stichwort russische Trollfabriken, Stichwort Brexit – als Gefahr für die Demokratie bei. Erst kürzlich warnte die Österreichische Akademie der Wissenschaft (ÖAW) vor der Macht von Facebook und Konsorten. Die ÖAW fordert daher einen Ethikrat für politische Werbung und Öffentlichkeitsarbeit im Netz. Doch noch steigen die Userzahlen in fast allen großen sozialen Medien. Nur Elon Musks „X“, ehemals Twitter, bestätigt schon jetzt den Gartner-Trend. X verlor fast 15 Millionen Nutzer seit der Übernahme durch den Tech-Milliardär. 2024 sollen Prognosen zufolge weitere 20 Millionen dem einstigen Vögelchen entzwitschern.
Junge gehen auf Social-Media-Entzug
Und die Jungen? Die wandern massenweite aus der digitalen Welt ab. Der soziale Druck, das perfekte Leben zu präsentieren, lässt sich nicht aufrechterhalten. Die knallbunte Welt der Influencer und Content-Kreatoren ist mit dem echten Leben kaum kompatibel. Im Gegenteil: Sie verursacht verminderten Selbstwert, Essstörungen bis hin zu Depressionen. Eine Langzeitstudie der Universität Montreal untermauert das. Die Universität begleitete 4.000 Jugendliche vier Jahre lang. Je mehr Zeit sie auf sozialen Medien verbrachten, desto stärker äußerten sich depressive Symptome ebenso wie Suchtthematiken und Schlafprobleme.
Die Screenager schlagen zurück
Social Detox oder Dopaminfasten erleben in der Gen Y und der Gen Z daher einen Boom. Social-Media-Konsum wirkt wie eine echte Dopaminmaschine. Likes und Kommentare setzen das Glückshormon frei. Je mehr man davon ausschüttet, desto mehr überstimuliert bzw. überreizt man das System. Wie bei einem Alkoholiker lechzt das Gehirn nach mehr. Der Verzicht auf Social Media soll den Dopaminhaushalt stabilisieren. Aus einstigen „Screenagern“ sollen wieder Teenager werden. So wie die Neo-Ludditen, die ihre „dumben“ Telefone nur für Gespräche und SMS nutzen – ganz wie damals, als Baggy Pants und übergroße Pullover das erste Mal in Mode waren.