Digitalisierungspannen
Stephan Grad, Gründer von A-Commerce, benotet die Digital-Performance der Regierung jedenfalls beinhart: „Wohlwollend würde ich sagen Vier minus, aber eigentlich ist es eine glatte Fünf – setzen!“ A-Commerce berät Unternehmen bei ihrer E-Commerce-Strategie und bringt sie mit den passenden Agenturen zusammen. Dennoch ist Grad ein wenig milde. „Positiv ist, dass es sehr viele Ideen gab und dass man etwas bewegen wollte.“ Der Knackpunkt, warum die Umsetzung dann doch eher suboptimal verlaufen ist, ist für Grad die fehlende Zielsetzung: „Beim Kaufhaus Österreich beispielsweise war nicht klar, was man wollte: Eine Linksammlung? Einen Marktplatz? Eine Art Firmen-ABC? Selbst wenn ich eine E-Commerce-Strategie verfolge, die nicht Premium-Klasse ist, braucht das drei bis vier Jahre. Es fehlte das Anforderungsprofil bzw. das Pflichtenheft. Je besser das Pflichtenheft, desto besser das Ergebnis.“ Die großspurige Ankündigung einer Art „Austro-Amazon“ weckte natürlich Begehrlichkeiten. „Und dann hatte der Dienstleister drei Monate Zeit zur Umsetzung. Jeder, der schon einmal ein IT-Projekt begleitet hat, weiß, dass das nicht geht.“
Mangelnde Fehlerkultur
In der Branche ist man darüber frustriert, dass nur wenige Firmen eingebunden waren, es keine Ausschreibungen gab und aus Fehlern nicht gelernt wurde. „Jeder in der IT-Branche hat schon einmal ein Projekt in den Sand gesetzt. Man kann Fehler machen, aber diese muss man zugeben und daraus lernen. Das fehlte gänzlich.“ Auch der Social-Media- und Online-Marketing-Berater Daniel Friesenecker bemängelt das: „Es wird eine Kultur des Scheiterns gepredigt, aber wenn Fehler passieren, wird sofort abgelenkt und nichts daraus gelernt.“ Wie kann man solch digitale Bauchflecke künftig vermeiden? Grad schlägt vor, dass Experten schon sehr früh eingebunden werden und auch an der Pflichtenheft-Erstellung maßgeblich beteiligt sein sollten. „Es gab ja schon einmal ein Digitalisierungsbüro, wo solche Experten die Politik beraten haben. Die haben aber nach und nach den Hut draufgehaut und sind nach dem Hickhack wieder zurück in die freie Wirtschaft.“
Fehlender User-Zentrierung
Friesenecker bemängelt die fehlende User-Sicht. „Man sollte nicht in Formularen denken, sondern in Daten. Dabei sind schon viele Daten vorhanden, die nicht immer neu ausgefüllt werden müssten.“ Ihm stößt dabei vor allem das Antragswesen bei den Hilfspaketen sauer auf. „Hier wurde viel wertvolle Zeit vergeudet, etwa bei der Abwicklung des Härtefall-Fonds durch die WKO. Hier wäre die komplette Infrastruktur beim Finanzamt da gewesen. Als Ausrede galt, da fehlt es an Personal. Die WKO hätte eine Art ‚Assistenzeinsatz‘ anbieten können, also die Finanzämter unterstützen, stattdessen hat man eine Parallelstruktur aufgebaut, um an die Daten der Unternehmen zu kommen.“ Auch sollte man laut Friesenecker von Best-Practice-Beispielen in anderen Ländern lernen: „Die digitale Staatsbürgerschaft in Estland etwa.“
Schlechte Datenqualität
Gerald Holzbauer, Gründer und CEO von solvistas, ist ein wenig gnädiger mit der digitalen Performance: „Es gibt ein Bundesbeschaffungswesen, das nicht auf eine Pandemie ausgelegt ist.“ solvistas ist auf Data Science spezialisiert und hat einige Produkte im Portfolio, die als Unterstützung während der Pandemie geeignet gewesen wären. Dennoch hat Holzbauer Verständnis für die eine oder andere Panne, vor allem weil es an guter Datenqualität gemangelt hat. „Es scheitert oft nicht an den Tools, sondern an den Daten. In Tirol lässt sich nicht nachvollziehen, ob die Virus-Mutationen über Skilehrer-Cluster oder Südafrika-Rückkehrer eingeschleppt wurden. Das ist aber entscheidend. Die beste KI oder Software der Welt könnte keine besseren Entscheidungen liefern, wenn die Datenbasis nicht passt.“
Pandemie zeigt Schwachstellen auf
solvistas hat einige Kunden aus dem Bereich Gesundheitswesen sowie dem öffentlichen Sektor und weiß, dass an vielen Verbesserungen gearbeitet wurde und wird. „Die Pandemie hat eben auch einige Schwachstellen in der Datenlandschaft aufgezeigt, die im Normalzustand nicht problematisch waren. Man denke dabei an die täglichen Zahlen über Infektionen. Es wurde einfach versucht, äußerst kurzfristig die Daten verfügbar zu machen, zu konsolidieren und auszuwerten. Dabei war oft schon die Definition der Kennzahlen schwierig, etwa ob ein Opfer eines Unfalls mit Covid-Infektion als Corona-Verstorbener zählt?“ Der Prozess erfordere eine Geschwindigkeit in der Verarbeitung, die man sonst nur von der Industrie kennen würde, so Holzbauer. „Wir denken, es wurde schon einiges geleistet, aber es wird noch ebenso viel Potenzial für weitere Optimierung brauchen.“
Die Zeit „danach“
Holzbauer denkt jedenfalls schon an die Zeit „danach“. „Die Pandemie wird ja nicht einfach in der Mitte des Jahres 2021 verschwinden.“ Mit dem Ticketingsystem und der Event-Analytics-Software „easyArena“ könnte das Unternehmen den Eintritt in eine Kultur- oder Sportveranstaltung mit Testergebnissen oder Impfnachweisen verknüpfen und so einen sicheren Veranstaltungsbesuch ermöglichen. „Das gibt den Menschen wieder mehr Vertrauen und Zuversicht zurück. So wie wir es bei den Öffnungsschritten beim Friseur haben, nur digital. Sobald es für Veranstalter wirtschaftlich Sinn macht, wäre es einsetzbar.“ solvistas steht mit diesem Produkt nun „in der ersten Reihe“. Auch eine Tracing-App hat man im Programm. Warum hat man die Dienste der Linzer nicht gleich in Anspruch genommen? „Das gab es ja auch bei den Masken. Es gab heimische Hersteller, die liefern hätten können, aber keiner hat sie gefragt, weil man sie auch nicht kannte. Man muss künftig die heimischen Lieferanten mehr am Radar haben, um rascher reagieren zu können.“ Friesenecker stößt ins selbe Horn: „Die entscheidenden Köpfe – sprich die leitenden Beamten – sind gefragt, sich diesen Überblick zu verschaffen. Wir haben eine hohe Dichte an guten IT-Firmen, sie sollten aber auch wissen, was gerade in Hagenberg oder an der JKU passiert. So entsteht der Eindruck, als würden in den Ministerien Beamte sitzen, die kaum vorbereitet sind und mit wenig Know-how versehen wichtige Entscheidungen treffen. Dann passieren Aussagen wie: ‚Wir arbeiten eh schon seit 20/30 Jahren an der digitalen Gesundheitsakte.‘ Gute Startups schaffen das in wenigen Jahren.“
Optimistisch in die Zukunft?
Eine Lösung für künftige außergewöhnlich Einsätze – man will den Teufel nicht an die Wand malen, aber eventuelle weitere Pandemien – sieht der Daten-Wissenschaftler Holzbauer in einem Gremium, in dem man „mehr Augenmerk auf die Kompetenzen der Unternehmen legt und über den Tellerrand blickt. Die Möglichkeiten in der Beschaffung durch gelistete Unternehmen und der Zeitdruck waren jetzt natürlich beschränkt“. Er setzt dabei ganz auf die Beamtenschaft: „Eine Regierung ist auf Zeit gewählt, der Beamtenapparat ist da weit stabiler. Die Beamtenschaft muss sich mehr bewegen und sinnvolle Investitionen wie Notebooks in Schulen etc. anstoßen. Es sollte auch seitens der Politik mehr Möglichkeiten geben, dass Firmen noch mehr digital abwickeln können. Die Regierung und die Politik haben das aber schon am Radar, allein dass es ein Digitalisierungsministerium gibt, zeigt das.“ Der solvistas-Gründer ist daher optimistisch. „Ich bin sicher, dass es zu einem Digitalisierungsschub auch in der Verwaltung und im Bildungswesen kommen wird. Die Berührungsängste wurden abgebaut. Die Pandemie wird bei der Digitalisierung einen nachhaltigen Effekt haben. Wir sind da zwar nicht weit vorne, könnten aber aufholen.“ Das sieht auch Stephan Grad so: „Vor der Pandemie hätte ich gesagt, dass wir ca. sechs Monate hinter Deutschland sind, jetzt sind es nur noch drei.“ Dennoch sind die Benchmarks in Europa nicht unsere Nachbarn, sondern Dänemark, Schweden, Finnland, Estland oder Malta. Österreich findet sich im europäischen Digitalisierungsindex erst auf Platz 13, einen Platz hinter Deutschland. Um die Noten schleunigst zu verbessern, muss wohl noch einige Zeit „nachgesessen“ und gewissenhaft an den Hausübungen gearbeitet werden.
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