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Klimaaktivistin in Rom
Klimaaktivisten überschütten sich vor dem Senatsgebäude in Rom mit Schlamm.
Klimaaktivisten überschütten sich vor dem Senatsgebäude in Rom mit Schlamm.
LAPRESSE / EXPA / PICTUREDESK.COM

Apokalypse: Das Ende naht!

12.06.2023 um 15:40, Klaus Schobesberger
min read
Mit der Pandemie und dem Klimawandel ist die Apokalypse wieder in unser Bewusstsein gerückt. Dabei wurde die Menschheit bis jetzt verschont.

Kein anderes Filmwerk trifft den aktuellen Zeitgeist besser als „Don’t look up!“ mit den Holly­woodsuperstars Jennifer Lawrence und Leonardo DiCaprio. Die schwarze Komödie des Streaminganbieters Netflix beschreibt die Geschichte zweier nerdiger Astronomen, die auf ihrer Forschungsstation zufällig einen Asteroiden entdecken, dessen Flugbahn leider die Erde kreuzt. Die beiden Wissenschaftler berechnen den exakten Zeitpunkt des Zusammenstoßes mit dem Meteoriten und wenden sich an die amerikanische Präsidentin. Da aber die Midterm-Wahlen ins Haus stehen, bittet sie, „Ruhe zu bewahren“. Daraufhin kontaktieren die Forscher die Medien, geben ein Live-Interview zur besten Sendezeit, um die Menschheit vor dem drohenden Untergang zu warnen. Unerwartet wird ihr Auftritt verrissen. Es schlägt ihnen Skepsis und Wissenschaftsfeindlichkeit gepaart mit Verschwörungstheorien entgegen. Die US-Regierung übernimmt den Wahlslogan „Don’t look up“: Einfach nicht nach oben blicken, dann wird schon nichts passieren. Der Streifen erschien während der Coronapandemie, als ein großer Teil der Menschheit zu Hause in Lockdowns Bekanntschaft mit einem Szenario machte, das sie zuvor nur aus Hollywood kannte. Heute ist die Produktion, die als Allegorie für die drohende Klimakatastrophe gesehen wird, längst von einem Schauspiel auf Straßen und öffentlichen Plätzen eingeholt worden, in dem Aktivisten der „Letzten Generation“ Regie führen und vor dem drohenden Kollaps der Erde warnen. 

Dont Look Up-Ausschnitt
Kein Happy End in der schwarzen Komödie „Don’t Look Up“ mit Jennifer Lawrence und Leonardo DiCaprio als nerdige Astronomen.

Der Untergang als Geschäftsmodell

Die Angstlust vor dem Weltuntergang begleitet die Menschheit fast seit Anbeginn mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass er nicht einzutreten pflegt. Angeblich wurde der Jüngste Tag rund 180 Mal bereits prophezeit, Wikipedia listet (auf Englisch) „vorhergesagte Termine apokalyptischer Ereignisse“ der letzten 2.000 Jahre auf. Einige der bekanntesten Unheilsprophetien der jüngeren Zeit: 1910 nähert sich der Halleysche Komet der Erde, was zu einer Massenpanik in Europa führt. Nichts ist passiert. Unbeschadet durchlebte die Menschheit auch das Jahr 1999, eine magische Zahl, auf die Nostradamus in einer seiner Prophezeiungen hingewiesen hat. Der Eintritt ins Jahr 2000 ließ Prognosen sprießen, dass der „Y2K-Bug“ weltweit Computerabstürze auslöst, alle systemrelevanten Einrichtungen von Banken bis zu Kraftwerken lahmlegt und Atomwaffen zur Selbstauslösung bringen könnte. Wir haben auch dieses Jahr ohne Schrammen überstanden. Die Prophezeiung der Maya vom Ende der Menschheit im Jahr 2012 nahm diese bereits relativ gelassen entgegen. Wohl auch deshalb, weil die Apokalypse inzwischen zu einem echten Geschäftsmodell geworden ist. Zwischen 2010 und 2019 behandelten fast 100 Hollywoodfilme Endzeit-Themen wie Klimawandel, ­Asteroideneinschläge, nukleare Holocausts, Rohstoffkriege, Pandemien, Zombie-Apokalypse, Aufstand der Roboter oder Invasion durch Außerirdische. Ein Rekord. Die Bestsellerlisten sowohl in der Belletristik als auch im Sachbuchbereich werden immer wieder von Untergängen dominiert. Die Themen reichen vom baldigen Zusammenbruch des Finanzsystems bis zum drohenden „Blackout“, ein Buch, das dem österreichischen Autor Marc Elsberg internationale Bekanntheit einbrachte.

Künstliche Intelligenz: „Ausrottung der Menschheit“

Kaum ein Jahr vergeht ohne schreckliche Zukunftsszenarien. 2023 ist es die künstliche Intelligenz (KI), welche die apokalyptischen Reiter antreibt. Zumindest das war vorhersehbar. ­Bekannte Persönlichkeiten wie openAI-Gründer und ChatGPT-Erfinder Sam Altman oder Unternehmer Elon Musk warnen vor der Ausrottung der menschlichen Rasse. Die Website „Centre for AI Safety“ listet eine Reihe von „realen Gefahren“ der künstlichen Intelligenz auf. Sie reichen von KI als Waffe bis zur kompletten Entmündigung der Bevölkerung. Für den israelischen Denker Yuval Noah Harari ist KI gefährlicher als der Klimawandel. Er warnt davor, dass künstliche Intelligenz religiöse Texte verfassen, einen Kult gründen und so Demokratie und Gesellschaft gefährden könnte. Harari unterzeichnete als einer der Ersten das Papier des Future of Life Institute, in dem Wissenschaft und Digitalindustrie einen Entwicklungsaufschub von sechs Monaten fordern. Die Bürokraten in Brüssel lassen sich das nicht zweimal sagen: Sie spitzen die Bleistifte und arbeiten bereits an einem Gesetz, das die Gefahren der KI-Herrschaft prophylaktisch eindämmen soll. Ziemlich sicher ist auch diese Aufregung umsonst. Denn derzeit antwortet die künstliche Intelligenz ja nur, wenn sie gefragt wird – und so lange niemand den Stecker zieht. 

Die Doomsday Clock wird enthüllt.
Nur noch 90 Sekunden zum Weltuntergang. Am 24. Jänner enthüllten Wissenschaftler mit der „Doomsday Clock“ die neuen Risiken für die Menschheit.

Apokalypse – heute ein Aufruf zum Handeln

Während früher die Angst vor dem Ende Menschen in die Kirche trieb, ist die Apokalypse heute eine Aufforderung zum Handeln. Galt damals für menschliche Lernprozesse, „aus Schaden klug zu werden“, müsse man heute klug werden, bevor der Schaden eintritt, sagt der deutsche Philosoph Peter ­Sloterdijk. Er spricht von einer „Autodidaktik auf Leben und Tod“. Für ihn können nur Apokalyptiker vernünftige Zukunftspolitik betreiben, weil sie vorausschauend aktiv werden können, um den Ernstfall zu verhindern. Dieser Ansatz verbindet Climate-Fiction-Autoren und Vertreter des Geoengineering wie den Austro-Amerikaner Gernot Wagner, der Klimaökonomie an der New York University unterrichtet. Er schlägt vor, den Klimawandel mittels moderner Technologien aufzuhalten, etwa mit der Methode des solaren Geoengineering. Kleinste Partikel in der Stratosphäre sollen das Sonnenlicht vor dem Eintreffen auf die Erde reflektieren und so für Abkühlung sorgen. Wie darf man sich das vorstellen? „Ungefähr so, wie sich die Sonne nach einem Vulkanausbruch verdunkelt“, sagt Wagner. Den Aktivisten von „Letzte Generation“ oder „Just Stop Oil“ reicht das nicht. Sie rufen wie alttestamentarische Pro­pheten oder Sektenführer zur Abkehr von Fleisch, Auto und Fliegen auf. 

Der religiöse Aspekt neuer Bewegungen

Der zutiefst religiöse Aspekt einer „Apokalypse ohne Gott“ ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Religion ist präsent wie nie. Das sieht nicht nur Reinhold Dessl, der Abt von Wilhering, so (siehe Interview), sondern auch der Soziologe Armin Nassehi findet die Unbedingtheit der Forderungen solcher Gruppen verstörend. Dabei gehe es weniger um die Sache selbst. „Es ist ihr religiöses Moment, die eschatologische Wucht der Behauptung, mitten im Entscheidungsmoment einer ­Unheilsgeschichte zu stehen. Das verleiht ihren Protesten einen enormen Sinnüberschuss“, sagt ­Nassehi, der sich an seine Jugendjahre und die Aufmärsche mit der evangelischen Jugend gegen atomare Aufrüstung der Weltmächte erinnert sieht. „Das Verstörendste ist die endzeitliche Begründung, gegen die kein Argument mehr ankommt. Über die letzten Dinge kann man eben nicht verhandeln“, schreibt er im „Spiegel“. Dabei ist die Grundbedeutung des Wortes „Apokalypse“ aus dem letzten Buch der Bibel nichts anderes als „Offenbarung“. Nicht das Ende, der Weltuntergang zählt, sondern die Erlösung, der Übergang in eine ­bessere Welt. „Die Grundaussage der Apokalypse ist ein Trostbuch und kein Drohbuch“, sagt Dessl.

Die Weltuntergangsuhr tickt

Die Wissenschaft hat in puncto Apokalypse die Rolle der Religion übernommen. Einer der Ersten, der sich dem Thema wissenschaftlich genähert hat, ist Oswald Spengler. In seinem epochalen Werk „Untergang des Abendlandes“ (1923) kommt Spengler durch Vergleiche mit früheren Kulturen zum Schluss, dass sich unsere abendländische Zivilisation in einer unumkehrbaren Endphase befindet. Der Untergang werde nicht in einer plötzlich auftretenden Katastrophe passieren, sondern sich als langsamer Abstieg vollziehen, den man nicht verhindern kann, sondern nur heldenhaft zu ertragen hat. Spengler war von der Wissenschaftlichkeit seiner Arbeit überzeugt und auch davon, dass sie einer kritischen Überprüfung standhalte. In den letzten Jahren rückte der Klimawandel ins Zentrum, und Wissenschaftler werden nicht müde, mit zahlreichen Stu­dien unterlegt, vor der drohenden Katastrophe einer Erderwärmung zu warnen. Dass die Gefahren für die Menschheit real sind, wissen jene Zeitgenossen, die im Kalten Krieg groß geworden sind und die Möglichkeit eines atomaren Schlagabtauschs in den Nachrichten fast täglich vor Augen geführt bekommen haben. Seit 1947 analysiert das „Bulletin of the Atomic Scientists“ mit seiner „Doomsday Clock“, wie viel Zeit uns auf der Erde noch bleibt. Die von amerikanischen Nuklearwissenschaftlern gegründete Organisation befasst sich mit den Risiken der Gegenwart, die Atomkriege, Klimakatastrophen oder mögliche Epidemien beinhalten. Je größer die Gefahr, desto näher bewegt sich der Zeiger Richtung Mitternacht. Die Uhr spielt auf die Metapher an, es sei fünf Minuten vor zwölf. Im Januar 2023 rückte die Uhr wegen des Ukraine-Kriegs, der atomaren Gefahren und der Klimakrise wieder um zehn Sekunden vor. Eine Aktion, um die Menschheit wach zu rütteln.

Joe Biden stürzt auf einer Bühne.
Ende der amerikanischen Hegemonie: US-Präsident Joe Biden stürzt bei einer Abschlussfeier am 1. Juni zu Boden.

Geopolitik – die ultimative Kassandra der Gegenwart

Für einen Aufruf, zu handeln, ist es laut dem amerikanischen geopolitischen Analysten Peter Zeihan schon zu spät. Geopolitik ist die ultimative Kassandra des 21. Jahrhunderts. In seinem neuen, auf Englisch erschienenen Buch „The End oft he World is Just the Beginning“ zeichnet er in der Art Spenglers den Untergang der Welt, wie wir sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kannten, nach. Dank der Führungsrolle der USA wurden weltweiter Handel, globale Lieferketten und ein nie gekannter Wohlstand auf nahezu allen Teilen der Welt zur Norm. Für Zeihan endet der amerikanische Hegemon gerade. Und es gibt keinen Retter, der in den Startlöchern steht. Stattdessen fallen die zweitrangigen Mächte der Welt bereits in ihre alten Gewohnheiten der gegenseitigen Feindschaft zurück. Die Europäer haben sich laut Zeihan in der „friedlichsten und wohlhabendsten Zeit ihrer Geschichte als unfähig erwiesen, sich auf eine gemeinsame Käsepolitik, eine gemeinsame Bankenpolitik, eine gemeinsame Außenpolitik oder eine gemeinsame Flüchtlingspolitik zu einigen – geschweige denn auf eine gemeinsame strategische Politik. Ohne Globalisierung werden fast drei Generationen von Errungenschaften verpuffen.“ Einer der Haupttreiber des Niedergangs ist der demografische Aspekt. In den meisten Ländern wurde der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, um 1980 überschritten. Damals hörten Massen von Zwanzig- und Dreißigjährigen einfach auf, Kinder zu bekommen. Vier Jahrzehnte später geht diese ­kinderlose Generation nun in den Ruhestand. Zeihan meint, dass die meisten Industrie­länder noch in diesem Jahrzehnt vor einem gleichzeitigen Zusammenbruch von Konsum, Produktion und Finanzen stehen. Die Rückabwicklung der Globalisierung werde aber nur eine vorübergehende Übergangsphase, ein Interregnum für etwas Neues sein, eine Welt, in der sich Amerika in neuer Stärke erheben wird. Ein schöner Trost.

„Wir sind schon oft nahe am Untergang“

Interview. Reinhold Dessl, Abt des Stiftes Wilhering, über Apokalypse, Schöpfungsverantwortung, die menschliche Maßlosigkeit und die Bedeutung der Lehre Benedikts für uns heute.

Pater Reinhold Dessl vor Bücherregalen der Stiftsbibliothek.
Bete, arbeite und lies: Abt Reinhold Dessl, Jahrgang 1962, in der Bibliothek des Stiftes Wilhering.

CHEFINFO: Herr Abt, reden wir über die Apokalypse?
Reinhold Dessl: Das Wort Apokalypse wird umgangssprachlich sehr verkürzt verwendet. Die Apokalypse der Bibel gebraucht auch Schreckensbilder. Aber die Grundaussage ist, dass nicht der Schrecken das Ende sein wird, sondern dass am Ende die Begegnung mit Gott steht und das Gute über das Böse siegen wird. Vom Christlichen her ist die Grundaussage der ­Apokalypse ein Trostbuch und kein Drohbuch. Apokalyptische Strömungen hat es freilich immer schon gegeben und Weltuntergangsszenarien werden von religiösen Splittergruppen aufgegriffen. Gott sei Dank sind sie nie eingetreten.

Ob Nostradamus, die Mayas oder christliche Untergangspropheten: Die Beschäftigung mit den letzten Dingen geht oft mit Zeitangaben des Weltuntergangs einher …
Dessl: An so einen Termin in den 1970er-Jahren kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich hatte an diesem Tag Englisch-Schularbeit und ich fragte mich: Zahlt es sich noch aus, etwas zu lernen? Ich habe es dann getan. Der Weltuntergang ist ausgeblieben. Grundsätzlich ist es schon so, dass der Mensch mit seiner Endlichkeit konfrontiert wird. Ob er das wahrhaben will oder nicht. Das Leben ist endlich. Man könnte sagen: Warum nicht endlich leben? Die christliche Apokalypse beginnt jetzt. Sie soll ein Impetus sein, an einer Verbesserung der Welt zu arbeiten. Den Schrecken ernst nehmen, aber an einer besseren Welt arbeiten. 

Pandemie, Krieg, Klima: Verstärken diese Ereignisse nicht die Angst vor einem Weltuntergangsszenario?
Dessl: Krisen, Katastrophen, Kriege hat es immer schon gegeben. Neu ist die Mehrfachkrise, von der wir heute sprechen. Und durch eine Informationsgesellschaft wird das zusätzlich befeuert. Ein Psychologe hat gesagt, man soll das Wort auch nicht inflationär in den Mund nehmen, weil man damit Krisen produziert, gerade was psychische Krisen betrifft. Es gilt, immer die Waage zu halten. Die Realität ernst nehmen, den Anruf zu hören, aber trotzdem vernünftig zu und handlungsfähig zu bleiben. Das ist der christliche Ansatz.

Das verordnete Paradies auf Erden endet immer in der Katastrophe.

Reinhold Dessel

Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ rufen mit spektakulären Aktionen zur Umkehr auf. Klingt das nicht sehr nach religiöser Bewegung?
Dessl: Das Anliegen verstehe ich, die Dramatik versteh ich auch. Die Mittel scheinen mir doch etwas fragwürdig und übertrieben zu sein. Prophetische Handlungen hat es immer gegeben, aber man soll immer den Hoffnungsaspekt betonen, der geht mir ab in vielen Bereichen. Es ist auch interessant, wie die Kirche das aufnimmt. Die erste Umwelt-Enzyklika „Laudato si“ von Papst Franziskus 2015 spricht vom Artensterben, von Schöpfungsverantwortung, wie noch nie ein Papst davon gesprochen hat. Globale Krisen fordern globales Handeln. Weg vom Besitzdenken, hin zum Pflegen des gemeinsamen Hauses der Schöpfung. 

Die Menschheit hat sich dank Inno­vationen und Prosperität sehr gut entwickelt. Liegt hier die Lösung?
Dessl: Eindimensionale Entwicklungen, wie nur auf die Wirtschaft oder die Technik zu setzen, führen in die Irre. Es braucht ganzheitliche Lösungen. Mir gefällt das auch in dieser Enzyklika „Laudato si“, dass der Papst nicht nur den Blick auf Europa hat, sondern auch andere Kulturen miteinbezieht, zum Beispiel das asiatische Denken, das ganzheitlicher als unseres ist. Oder das afrikanische Denken, dass wir alle eine Familie sind. Ich glaube, wir müssen uns von anderen Kulturen sehr viel sagen lassen. Das ist der neue Humanismus, der gefordert ist. Wir vom Forum Humanismus versuchen, auch hier wieder Brücken zu bauen, zwischen Kulturen, zwischen Wissenschaft und Religion, neu in den Dialog einzutreten.

Kann man daraus ableiten, dass der Abt von Wilhering ein Optimist ist, was die Zukunft der Menschheit betrifft?
Dessl: Wenn man die Nachrichten sieht und von den Machtspielen der Autokraten und ihren Atomarsenalen hört, da hält sich mein Optimismus in Grenzen. Wir sind schon oft nahe am Untergang. Es ist keine Zeit für Schönfärberei oder Blauäugigkeit. Trotzdem handlungsfähig zu bleiben, darum geht es.

Vertreter des Humanismus gehen davon aus, dass sich der Mensch zum Besseren entwickelt. Kann man das so stehen lassen?
Dessl: Automatisch passiert das nicht. Laut christlichem Menschenbild ist der Mensch zum Guten, aber auch zum Bösen fähig. Er hat das Gewissen in sich. Er muss dieses Navigationssystem schulen und pflegen. Sonst gibt es ­keine Warnrufe mehr. Der Mensch muss an sich arbeiten. 

Investitionen ins Menschliche lohnen sich immer. Das ist die Botschaft.

Reinhold Dessl

Sie haben mit der „Humanismus“-Reihe auch viel mit Führungskräften zu tun. Wie nehmen Sie die Anstrengungen der Wirtschaft wahr?
Dessl: Unternehmer haben es nicht einfach in unserer Zeit. Aber ich denke, es lohnt sich, an nachhaltigen und sozialen Lösungen zu arbeiten. Wie man in den Wald hineinruft, so kommt es wieder zurück. Investitionen ins Menschliche lohnen sich immer. Das ist, glaube ich, die Botschaft. Viele Unternehmen haben das auch erkannt in der Mitarbeiterführung und der Beteiligung der Mitarbeiter. Es lohnt sich, gut zu sein, sagt der Arzt Johannes Huber. Er hat recht.

Sie sind Benediktiner. Was hat uns Benedikt von Nursia heute zu sagen?
Dessl: Die Regel des hl. Benedikt ist inzwischen 1.500 Jahre alt. Er hat damals schon erkannt, dass das Gebet – „ora“ – auch die Arbeit – „labora“ – braucht. Die Vollform heißt übrigens „Bete und arbeite und lies“. Auch die geistige Beschäftigung ist wichtig. Mit Benedikt beginnt das strukturierte Wirtschaften in Eu­­ropa, auch von der Zeiteinteilung her. Ein wichtiger Begriff ist auch, das richtige Maß zu finden. 

Sind wir zu maßlos geworden?
Dessl: In jeder Hinsicht. In der Ausbeutung der Welt, in der Ausschöpfung der Ressourcen, im Wohlstand. Das heißt nicht, dass alle bettelarm werden müssen. Aber das richtige Maß wieder finden, darum geht es. Auch eine ­gewisse Einfachheit wieder finden. Wir leben hier in sehr prächtigen Räumen, aber unsere Maxime ist ein einfaches Leben. 

Politische Strömungen wie der Kommunismus haben Zulauf, andererseits schreitet die Technik voran. Worauf müssen wir aufpassen?
Dessl: Die Konstruktion des verordneten Paradieses auf Erden ist immer schief­gegangen und endete immer in der Katastrophe. Der Mensch neigt zu einfachen Lösungen. Das hohe Gut der Demokratie und der Freiheit dürfen wir nicht preisgeben. Was mir Angst macht, ist die Möglichkeit der Massenkontrolle durch Gesichtserkennung, der Missbrauch der Technik, um Menschen zu knebeln. Das ist für mich apokalyptisch.