Neinsagen ohne schlechtes Gewissen
Diese Situation kennt wohl jeder: Man wird von einem Freund oder Kollegen mit einer Bitte oder Einladung überrascht und bevor man sich die Sache zweimal überlegen kann, hat man auch schon zugesagt. Sobald das Gespräch beendet ist, ist man richtig wütend auf sich selbst. Eigentlich hat man ja gar keine Zeit oder wirkliche Lust darauf. Und das Ja war eher ein antrainierter Reflex als eine wirkliche Zusage. Gleichzeitig weiß man, dass man bei einem Nein als Antwort ein furchtbar schlechtes Gewissen hätte – es ist ein wahrer Teufelskreis.
Angst vor Zurückweisung
Ein Nein kommt uns meist viel schwerer über die Lippen als ein Ja. Aber warum eigentlich? „Einer der Hauptgründe ist mit Sicherheit die Angst, nicht mehr gemocht zu werden. Viele Menschen fürchten sich davor, durch das Neinsagen ihre Zugehörigkeit zu verlieren. Sie wollen außerdem nicht egoistisch wirken und versuchen daher, die Bedürfnisse anderer über ihre eigenen zu stellen“, erklärt Psychotherapeut und Coach Werner Walisch. Auch der Wunsch nach Bestätigung spielt dabei eine Rolle. Gerne stehen wir vor anderen als starke Alleskönner da, die vor keiner Aufgabe oder Bitte zurückschrecken und immer alles erledigen. Mit Sätzen wie „Du bist der Einzige, der diese Aufgabe übernehmen kann“ wird uns dann noch Honig ums Maul geschmiert.
Wer immer nur Ja zu allem sagt, obwohl er das gar nicht will, stellt seine eigenen Bedürfnisse immer hinten an und lässt sein Leben von anderen steuern.
- Werner Walisch, Psychotherapeut, Coach und Paartherapeut
Tief verankert
Dieses Bedürfnis, sich in einem sozialen Gefüge anpassen zu wollen, stammt noch aus der Steinzeit, wie Mindful Leadership Coach Nina Haidinger erklärt. „Von Beginn an haben wir gelernt, Aufmerksamkeit mit Liebe zu assoziieren. Konnte man mit irgendetwas die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich ziehen, war es weniger wahrscheinlich, angegriffen oder verletzt zu werden“, so Haidinger. „Wenn wir also Nein sagen, fürchtet unser Gehirn, dass wir nicht mehr gemocht werden, uns niemand mehr Beachtung schenkt und unser Überleben in Gefahr ist“, führt die Expertin aus. Diese Assoziation hat sich tief in unser Unterbewusstsein eingeprägt und bestimmt unser Verhalten bis heute.
Frauenproblem?
Auch wenn man glauben könnte, dass Frauen vielleicht ein noch größeres Problem mit dem Neinsagen haben als Männer, so betrifft dieses Verhalten doch jeden Menschen – unabhängig vom Geschlecht. „Ich bemerke dieses Problem bei vielen meiner Kunden – egal ob Mann oder Frau. Natürlich werden Frauen oft in eine Rolle gedrängt, in der sie brav und artig sein müssen und jedem gefallen sollen. Doch auch Männer finden sich oft in Situationen wieder, in denen sie aus sozialem Druck oder einer gewissen Erwartungshaltung heraus Ja sagen und es später bereuen“, erklärt Haidinger. Es kommt also vor allem auf die Situation an: Während es einigen Menschen schwerer fällt, berufliche Aufgaben abzulehnen, wenn sie bereits ausgelastet sind, kämpfen andere damit, in ihrem privaten Umfeld ein ehrliches Nein auszusprechen.
Dürfen statt müssen
Dabei ist das Neinsagen ein besonders wichtiger Bestandteil eines selbstbestimmten Lebens. „Wer immer nur Ja zu allem sagt, obwohl er das gar nicht will, stellt seine eigenen Bedürfnisse immer hinten an und lässt sein Leben von anderen steuern“, versichert Walisch. Die eigene Zeit und Energie sind keine unbegrenzten Ressourcen, sie sollten daher bedacht eingesetzt werden. Grenzen zu ziehen, auf die eigenen Bedürfnisse zu hören und im Zuge dessen auch Dinge abzulehnen, trägt dazu einen wichtigen Teil bei. „Das Neinsagen sollte eine bewusste Entscheidung sein. Man sollte nicht denken, in diesem Moment Nein sagen zu müssen, sondern es vielmehr zu dürfen“, rät Haidinger. Auch für die eigene Authentizität ist Neinsagen sehr wichtig: Wer Ja zu etwas sagt, sollte das auch wirklich so meinen und seine Antwort nicht später bereuen. „Durch das Neinsagen lernt man einen Menschen erst wirklich kennen. Wer immer nur Ja und Amen zu allem sagt, zeigt nicht viel von seinen Bedürfnissen und seinem wahren Ich“, stimmt auch Walisch zu.
Den Schmerz ertragen
Ratschläge, wie „Denk nicht so viel darüber nach“ oder „Bleib einfach hart“ sind zwar oft gut gemeint, helfen aber in der Praxis wenig weiter. Denn nicht das aktive Bewusstsein, sondern das Unterbewusstsein ist der entscheidende Faktor in dieser Situation. Ein schlechtes Gewissen ist unglaublich unangenehm, es abzulegen auf keinen Fall einfach. Wie schafft man es aber, diesen Teufelskreis zu durchbrechen? Mindful Leadership Coach Nina Haidinger hat darauf eine Antwort: „Der Schlüssel ist, nicht mehr vor dem schlechten Gewissen davonzulaufen, sondern sich aktiv damit auseinanderzusetzen. Wie unangenehm dieses Gefühl auch sein mag, den Schmerz bewusst zu erleben, kann aufzeigen, dass die Folgen gar nicht so schlimm sind“, rät die Expertin. Selbst wenn wir jemanden mit unserem Nein enttäuschen, wütend oder traurig machen, so hat das nichts mit unserem eigenen Selbstwert zu tun. Diese zwei Aspekte dürfen nicht in Abhängigkeit stehen. „Wir dürfen lernen, uns selber noch zu mögen, auch wenn uns vielleicht eine andere Person nicht mehr mag“, klärt Nina Haidinger auf.
Wir dürfen lernen, uns selber noch zu mögen, auch wenn uns vielleicht eine andere Person nicht mehr mag.
Nina Haidinger, Mindful Leadership Coach
Mitgefühl für sich selbst
Das Neinsagen will gelernt sein. Denn es ist keine Aufgabe, die einfach von heute auf morgen gemeistert wird. Da dieses Zugehörigkeitsbedürfnis so tief in uns verankert ist, muss das Gehirn langsam und gezielt umtrainiert werden. „Am besten beginnt man zunächst mit einer einfacheren Situation. Ich sage Nein und mein Gegenüber reagiert enttäuscht oder wütend. Was löst das in mir aus? Sind wir trotzdem noch Freunde? Mit der Zeit lernt das Gehirn, dass auch die negative Reaktion eines anderen keinen Weltuntergang bedeutet“, so Haidinger. Und gelingt das Neinsagen einmal nicht, ist das noch lange kein Grund, unzufrieden mit sich selbst zu sein. „Ich glaube, wir müssen uns selbst gegenüber oft mehr Mitgefühl entgegenbringen. Alles, was mit Druck geschieht, braucht noch länger und ist viel mühsamer“, rät Haidinger.
Die Zeitmethode
Sich in Ruhe Zeit für die Frage zu nehmen und sich die Sache ausführlich durch den Kopf gehen zu lassen, dazu rät auch Werner Walisch. Dieses schnelle Jasagen rührt nämlich oft auch daher, dass wir uns keine Zeit nehmen, die Anfrage wirklich zu überdenken. Wird man also mit einer Anfrage überrascht, ist es sinnvoll, erst um ein bisschen Zeit zu bitten. „Außerdem kann es helfen, sich in dieser Situation eine Waage vorzustellen: Geben und Nehmen sollten dabei im Gleichgewicht stehen. Ist die Person, die mich gerade um etwas bittet, jemand, der auch mir immer wieder hilft, oder bin ich immer derjenige, der mehr gibt, als er zurückbekommt?“, erklärt er. Auch der Wert der eigenen Zeit sollte dabei miteingerechnet werden. Wie viel ist mir eine Stunde wert? Brauche ich diese Ressourcen eigentlich für etwas anderes?