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Auch Jahre nach der Geburt kann dieses Trauma die Beziehung zu Kind oder Partner häufig noch extrem belasten - ein Tabuthema, über das kaum jemand spricht
Auch Jahre nach der Geburt kann dieses Trauma die Beziehung zu Kind oder Partner häufig noch extrem belasten - ein Tabuthema, über das kaum jemand spricht
KIEFERPIX / ISTOCK / GETTY IMAGES PLUS

Geburtstrauma statt Traumgeburt

03.06.2024 um 00:00, Adina Lechner
min read
Traurigkeit, Wut oder Schuldgefühle statt Mutterglück - viele Frauen finden nach der Geburt ihres Kindes nicht das erwartete überbordende Glück.

SO ERKENNT FRAU, DASS DIE GEBURT NOCH NICHT VERARBEITET WURDE

  • Selbstvorwürfe
  • Depression
  • Albträume
  • Erschöpfung
  • Gefühlsausbrüche
  • Ängste
  • Panikattacken
  • Flashbacks (=häufiges Grübeln über die Geburt)
  • Vermeiden von Menschen & Orten wegen Traumaverbindung
  • Erinnerungslücken an die Geburt
  • Bodyshaming
  • Helikopterdenken
  • Soziale Isolation
  • Ablehnende Körpernähe zum eigenen Kind

     

Hauptsache, das Baby ist gesund“ oder „Wenn Du erst das Kind im Arm hältst, sind alle Schmerzen vergessen“ – doch so einfach ist es für viele Mütter nicht. Häufig hat die Geburt, die womöglich anders verlaufen ist, als man es sich gewünscht hätte, emotionale Narben hinterlassen, die nur schwer oder gar nicht heilen und mit denen die Betroffenen dann häufig allein gelassen sind.

Scham
Die Schwierigkeit, seinem Kind körperlich nicht nahe sein zu können, führt bei der traumatisierten Mutter meist zu Selbsthass.

Diversität.
33 Prozent der Frauen bewerten ihre Geburtserfahrung als traumatisch, empfanden sie als bedrohlich für sich und ihr Kind – diese internationale Studie zitiert etwa die deutsche Diplom-Psycho- login Tanja Sahib, die sich auf Traumatisierungen nach der Geburt spezialisiert hat, in ihrem Buch „Geburt als Übergangsritual“. Bis zu zehn Prozent der Frauen erleben laut der Studien später erhebliche posttraumatische Stressreaktionen, doch nur bei ein bis zwei Prozent wird eine postnatale posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Bei den meisten heilt tatsächlich die Zeit auch die seelischen Wunden und die Frauen können das Erlebte verarbeiten. Doch ein Drittel der Frauen (oder auch der begleitenden Väter) schafft es nicht, das Trauma mit seinen eigenen Ressourcen zu überwinden und braucht professionelle Hilfe.

Soziale Isolation
Emotionale sowie körperliche Ohnmacht als auch Scham münden meist in soziale Isolation

Anders als gedacht.
Nicht jede kompliziert verlaufene Geburt löst ein Trauma aus und nicht jede mentale Krise rund um die Geburt fußt auf einer schweren Geburt, darauf macht die Diplom-Lebens- und Sozialberaterin Jessica Hirthe, die Unterstützung bei der Bewältigung von belastenden Geburtserfahrungen und mentale Geburtsbegleitung anbietet, aufmerksam. „Was Gebärende als traumatisch empfinden, ist von Frau zu Frau verschieden – und kann niemand von außen bewerten.“ Einer der häufigsten Gründe, warum Frauen das Geburtsgeschehen als übermächtige Bedrohung wahrnehmen, sind Komplikationen während der Geburt und damit verbundene unerwartete, teils sehr schmerzhafte medizinische Eingriffe. Die Rede ist von ungeplanten, plötzlich notwendigen Kaiserschnitten, von Wehentropf, Saugglocke, Dammschnitt usw. Vor allem ungeplante Kaiserschnitte hinterlassen oft nicht nur eine Bauch-, sondern auch eine seelische Narbe: Viele Frauen, die ihr Kind aus eigener Kraft gebären wollen, werden plötzlich von den veränderten Geschehnissen überwältigt, fühlen sich ausgeliefert, in ihrem Selbstwert erschüttert und nachhaltig verletzt – nach dem Motto: „Ich habe es nicht geschafft.“

Selbstzweifel
Selbstzweifel, Vorwürfe, Erschöpfung sowie fehlende Unterstützung treiben traumatisierte, frischgebackene Mütter in eine Abwärtsspirale

Berührungspunkte.
Neben tatsächlicher Lebensgefahr für Mütter und Babys entstehen laut Psychologin Sahib viele Situationen sogar erst durch die unzureichende Begleitung der werdenden Eltern während der Geburt: dass sie etwa in der Eile im Kreißsaal nicht ausreichend aufgeklärt und informiert werden. Respektlose oder schmerzhafte Berührungen können auch frühere Traumatisierungen wie sexuellen Missbrauch wieder aufleben lassen. Eine Studie der Berner Fachhochschule hat ergeben, dass über ein Viertel aller Frauen während der Geburt Zwang erlebt. Die Gebärenden berichteten von Einschüchterungen oder Beleidigungen durch das Fachpersonal sowie von einseitigen Informationen zu Eingriffen. Unter diesen Bedingungen können Schmerzen, Angst, Hilflosigkeit und Komplikationen für die Eltern traumatisch sein. Frauen, die ihr erstes Kind bekommen, wissen nicht, wie ihre Geburt sein wird und haben nicht selten große Erwartungen. Viele machen sich danach Vorwürfe, etwas falsch gemacht oder versagt zu haben. Auch dieser Umstand kann zu einer Traumatisierung unter der Geburt führen. Gebärende können aufgrund ihrer körperlichen Unbeweglichkeit und der Wehenschmerzen nicht fliehen oder dagegen ankämpfen. Das Leben scheint ab dem furchtbarsten Moment wie eingefroren. Die Zeit scheint auf der Bewusstseins als auch auf der Gefühlsebene wortwörtlich stillzustehen. Das Steckenbleiben in der Situation verhindert das Ankommen in einem Leben mit Baby. So gehen sie psychisch verletzt und teils auch paralysiert in die neue Lebensphase als Mutter.

Funktionieren

Gefühlsstau.
Während in den ersten Wochen die Frau noch sehr mit der Versorgung des Babys und den einhergehenden Mutterpflichten beschäftigt ist, brechen die nicht verarbeiteten Gefühle häufig erst Monate später, oft auch erst Jahre danach hervor. Oder sie äußern sich in Problemen in der Beziehung zum Kind oder zum Partner. So scheint die allseits bekannte „Wochenbettdepression“ verzögert durch die bröckelnde „Ich muss funktionieren und stark sein“-Mauer. Oftmals vermeiden die Betroffenen etwa eine weitere Schwangerschaft, obwohl sie sich durchaus noch ein Kind wünschen würden, aus Angst vor einer weiteren schrecklichen Geburtserfahrung – oder sie wählen ganz bewusst einen Wunsch-Kaiserschnitt, um die Kontrolle und Selbstwirksamkeit über den Start ins Leben ihres Kindes und des eigenen Körpers zu haben. „Es gibt viele individuelle Wege, das Erlebte zu verarbeiten und in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren“, sagt Jessica Hirthe. Zu beherzigen wäre daher ihr dringlicher Rat: Nicht runterschlucken und sich nicht für die eigenen Gefühle und Gedanken schämen. „Sprecht darüber! Es betrifft so viele Frauen. Ihr dürft spüren, dass es einen Weg aus diesem Tal der Tränen gibt.“

                        GUT ZU WISSEN

Jessica Hirthe
Jessica Hirthe, Dipl. Lebens- & Sozialberaterin, mentale Geburtsbegleiterin

Was passiert bei einem Geburts­trauma mit einer Frau?
Die Geburt ist ein intimer Moment im Leben einer Frau. Die Frau ist verletzlich, offen und hingebungsvoll. Eine Grenzüberschreitung bei einer Gebärenden passiert sehr viel schneller als sonst. Jedes Wort, jede Berührung, je der Kontakt mit Außenstehenden und Fremden werden während der Geburt intensiver erlebt. Deswegen fühlen sich Betroffene schneller überwältigt, ohnmächtig und ausgeliefert. Ein Trauma wird durch Situationen ausgelöst, die derart überfordern, dass der Körper in einen Schutzmechanismus schaltet. Es zeigen sich Anzeichen eines Schocks: Viele sind zwar hellwach, aber spüren nichts mehr, andere sind desorientiert, wissen nicht mehr, was geschehen ist, atmen schnell, sind blass und zittrig.

Wie kann man solche Erlebnisse verarbeiten?
Ab dem Moment der Traumatisierung bis zur vollständigen Heilung benötigt jeder Mensch seinen ganz individuellen Zeitraum. Wenn eine Klientin versteht, dass ihre Reaktionen wie Ängste oder Erinnerungslücken keine psychischen Störungen sind, sondern sinnvolle Überlebensstrategien, kann das bereits ein erster Schritt Richtung Trauma-Bewältigung sein. Die Betroffene kann dabei unterstützt werden, langsam das Gefühl der Sicherheit und Eigenständigkeit wiederzuerlangen. Innere Selbstgespräche binden viel Energie. Einmal alles Nagende aussprechen zu dürfen, kann allein schon große Erleichterung verschaffen. Die Betroffenen brauchen auch Raum für Traurigkeit – etwa darüber, dass es anders war wie gewünscht, dass sie körperliche Narben erlitten haben usw. Dann kann die Erfahrung in die eigene Lebensgeschichte integriert, können eigene Schwächen akzeptiert und es kann sich von Scham und Schuld verabschiedet werden.

Nähere Informationen zu diesem Thema und zu meiner Person findest du unter hirthe.at denn

"Nichts verändert sich bis man sich selbst verändert. Und dann verändert sich plötzlich alles."

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