Der große Verschwörungs-Wahn rund um Corona
„QAnon“ könnte man für ein SUV-Modell halten oder eine Sonnenbrillenmarke. Weit gefehlt. Das Kunstwort steht für eine Bewegung, die einem seltsamen Glauben anhängt, der derzeit in den sozialen Medien und auf Youtube verbreitet wird.
Diesem zufolge gibt es eine weltweite Verschwörung von Pädophilen, deren Mitglieder sich ein Hormon zur Lebensverlängerung spritzen lassen. Die Substanz werde aus den Zirbeldrüsen abertausender entführter Kinder extrahiert, die zu diesem Zweck in geheimen, unterirdischen Verliesen eingesperrt seien.
Mystery-Wahn
Zeugen, Beweise oder Indizien? Fehlanzeige. Während andere Verschwörungstheoretiker oft viel Hirnschmalz darauf verwenden, ihre Aussagen untermauern zu wollen, fehlt bei den „QAnon“-Wortführern diese Anstrengung völlig. Es ist so und basta. Ein kollektiver Mystery-Wahn, der auf schlichte Gemüter anscheinend ansteckend wirkt und von den USA längst auf Europa übergegriffen ist.
Symbole und Codes der Gesinnungsgemeinschaft tauchen regelmäßig auf den „Corona-Demos“ auf, in Berlin ebenso wie in Graz oder Wien. Der deutschsprachige Telegram-Kanal „QlobalChange“ zählt 117.000 Mitglieder. Zwar haben Facebook und Instagram mittlerweile beschlossen, einschlägige Konten zu schließen, aber „QAnon Austria“ existiert nach wie vor und hat 9.800 Abonnenten.
Fahnen-Attacke
Der deutsche Soul- und R&B-Sänger Xavier Naidoo verbreitet das düstere Szenario von den gequälten Kindern ebenso wie der Vegan-Koch Attila Hildmann. Die österreichische Empörungsnudel Jennifer Klauninger von der Bürgerinitiative „Wir gemeinsam“ fühlte sich unlängst bemüßigt, die Regenbogen-Fahne der schwul-lesbischen Bewegung zu zerstören. Klauninger behauptete nach ihrer spontanen Aktion, die Fahne sei ein geheimes Erkennungszeichen der Pädophilen-Szene. Sie wisse das von einer Internetseite des FBI.
Geschehen ist das auf einer der jüngsten Demonstrationen gegen die Pandemie-Maßnahmen der Regierung in Wien. Diese Aufmärsche sind Ausdruck berechtigter Sorgen vieler Bürger, was die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie betrifft. Andere Demonstranten ärgern sich da auch lautstark über den Trial-and-Error-Modus der Politik oder lehnen einfach nur das Maskentragen ab.
Spinner, Wutbürger & Co
Viele der Empörten scheinen aber alles, worüber normalerweise Konsens besteht, abzulehnen. Man gewinnt als Beobachter den Eindruck, die kunterbunte Fundamentalopposition der Gesellschaft marschiert auf und ist froh, aus den jeweiligen virtuellen Zirkeln endlich mal an die frische Luft zu kommen.
Die radikalen Impfgegner mit ihrem Feindbild „Pharmaindustrie“ sind ebenso da wie jene, die glauben, das Corona-Virus sei von Bill Gates in die Welt gesetzt worden, um die Weltbevölkerung nachher mit einem Impfstoff zwangsbeglücken zu können. Die Anhänger der Chemtrail-Verschwörungstheorie sind ebenso vertreten wie jene die glauben, die 5G-Frequenzen dienten vor allem dem Zweck, die Bevölkerung krankzumachen.
Die Reichsbürger
Neben Rechtsradikalen machen sich auch die skurrilen „Reichsbürger“ lautstark bemerkbar. Die durchaus waffenaffine Gruppierung bestreitet die Legitimität des deutschen und österreichischen Staats und behauptet, es handle sich lediglich um von den Alliierten gegründete „Firmen". Auch für diese Szene von Sonderlingen ist der Virus bloß eine neue Strategie von hinter den Kulissen agierenden Finsterlingen, um „das Volk“ in Knechtschaft zu halten.
Neben Bill Gates halten auch viele George Soros für einen der großen Strippenzieher im Hintergrund. Der milliardenschwere US-Investor und Börsenguru ist das Symbol für das angeblich nach der Weltherrschaft gierende (jüdische) „Finanzkapital“.
Dass derartige, eigentlich schon uralte Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona wieder gerne aus der Mottenkiste geholt und aufgefrischt nachgebetet werden, belegt auch eine jüngst von „Marketagent“ durchgeführte repräsentative Umfrage.
Bio-Waffe
Sie ergab, dass immerhin 21 Prozent der Befragten Corona für eine absichtlich hergestellte biologische Waffe halten. Für knapp 16 Prozent ist die Pandemie ein Vorwand, um Freiheitsrechte einzuschränken und 14 Prozent glauben, dass „Geheimgesellschaften“ die Pandemie nutzen, um eine autoritäre Weltordnung zu errichten. Dass Bill Gates danach strebt, der Menschheit Mikrochips zu implantieren, halten immerhin 11 Prozent für wahr.
Man kann drüber streiten, wie verlässlich diese aus Meinungsumfragen gewonnenen Prozentzahlen sind. Das Stimmungsbild einer der letzten Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen in Wien zeigte aber schlaglichtartig auf, wie virulent verschwörungstheoretische Feindbilder sind – nicht nur unter älteren Wutbürgern. Auch in der Generation der „Digital Natives“.
Übliche Verdächtige
„Soros muss weg, Rothschild muss weg, Rockefeller muss weg, Illuminati müssen weg, Freimaurer müssen weg", skandiert eine junge Frau als Demo-Cheerleaderin auf der Kärntnerstraße und wird dabei von einem Smartphone abgefilmt. Das ist die fast vollständige Liste der traditionellen antisemitischen Hassobjekte – gegen jüdische Bankiers und die Freimaurer hetzten schon die Großdeutschen und später die Nationalsozialisten. Was die „Illuminati“ (d. i. ein humanistischer Geheimbund des 18. Jahrhunderts) betrifft, dürfte die Dame wohl Dan Browns literarischen Bestseller mit einen Tatsachenbericht verwechselt haben.
Später erfährt man, dass es sich um Christina K. handelte, eine 25-jährige Stewardess, die von der AUA nach Auftauchen des Videos sofort gefeuert wurde. Pikanterweise ist die 25-Jährige eine Kandidatin des Teams H.C. Strache für die Wiener Gemeinderatswahl. Sie kandidiert also für jenen Mann, der sich selbst für das unschuldige Opfer einer großen Verschwörung hält.