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Holger Eich ist Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe mit Schwerpunkt Gewalt, Missbrauch, Trauma. Er leitet das Kinderschutzzentrums Wien.
Holger Eich ist Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe mit Schwerpunkt Gewalt, Missbrauch, Trauma. Er leitet das Kinderschutzzentrums Wien.
Privat

Interview: Warum uns die Wut im Griff hat

11.11.2020 um 11:45, Alexandra Nagiller
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Nicht erst seit Corona gärt eine unterschwellige Aggression in vielen von uns. Doch warum?

Egal ob im Straßenverkehr, im privaten Bereich oder in vielen Alltagssituationen – man hat das Gefühl, dass das Aggressionslevel steigt. Stimmt das?
Es steigt offenbar die Bereitschaft, seiner Wut, seinem Hass und seiner Unzufriedenheit schneller in Form von Drohungen, aggressiven Gesten und im letzten Schritt Gewalt Lauf zu lassen. Oder umgekehrt gesprochen: die Hemmungen sinken. wir werden nicht damit geboren, unsere Bedürfnisse zurückzustellen und unsere Gefühle zu beherrschen: Babys schreien sofort und ungehemmt, wenn sie etwas brauchen. Erst wenn sie Kleinkinder - wir nennen sie oft „Trotzkinder“ – werden, müssen sie in einer für Eltern herausfordernden Phase lernen, dass sie nicht alles sofort haben können: Sie sollen nicht mehr schreien, sondern „bitte“ sagen. Sie sollen warten lernen und Langeweile aushalten. Das ist nicht angeboren, und es ist nicht einfach! In diesem Alter lernen sie bestenfalls auch, nicht nach jeder Zurückweisung zu beißen, zu treten oder zu kratzen.
Gewaltfreiheit ist also ein Lernprozess – wir lernen, dass man seine Gefühle auch anders ausdrücken kann (Sprache ist hier wichtig!), und wir lernen eigene Bedürfnisse zurückzustellen und auf etwas zu verzichten – das ist nicht einfach, aber die meisten lernen es.

Vor allem online steigt das Maß an Aggression immer weiter. Warum?
Wir wissen aus der Sozialpsychologie, dass es einige Faktoren gibt, die die Hemmschwelle zur Aggressivität senken. Einer davon ist Anonymität – wir sprechen von „Depersonalisierung“ – und die gibt es nicht nur online. Wenn man mich nicht erkennt – z. B. weil ich eine Maske trage oder eine Uniform – mache ich auch Dinge, von denen ich eigentlich weiß, dass sich das nicht gehört. Aber ich muss mich nicht dem Blick der anderen aussetzen, nicht deren Protest fürchten, mich nicht erklären.

Wie vertragen sich Corona-Einschränkungen und Aggression?
Zumindest zu Beginn war auch eine Welle von Zusammengehörigkeitsgefühl und der Einsicht, zum Wohle der Schwächeren auf etwas verzichten zu können, spürbar. Aber die dünne Eisdecke der Zivilisation bricht schnell.

Was meinen Sie konkret?
Gesichertes sozialpsychologisches Wissen ist, dass Menschen ihre Autonomie verteidigen und Einschränkungen, die sie nicht nachvollziehen können, trotzig bekämpfen. Das ist an sich eine sehr gesunde Reaktion. Mich würde es aber nicht wundern, wenn sich dies in bewusst trotziger Missachtung von aufgedrängten Regeln oder gar als Gewalt auf den Straßen zeigt. Auch Gewalt in der Familie wird wohl wieder ein großes Thema.

Wie viel Aggression ist ok? Bis zu einem gewissen Maß dient sie ja zum Selbstschutz und zum Erfüllen der eigenen Bedürfnisse.
Letztlich ist das die Frage der Ethik, die Frage nach dem „guten“ Verhalten. Ist die Art. wie ich meine Wut und meine Verletzung verarbeite, wie ich mein Bedürfnis nach Anerkennung im Umgang mit anderen erfülle, zumutbar? Konkret: Bei Gelegenheit mal zu schreien oder einen Teller an die Wand zu werfen - und so in einem Moment „die Luft rauszulassen“ halte ich für adäquat und zumutbar. Jemandem gezielt und dauerhaft Angst zu machen und so in seiner Freiheit einzuschränken, das zu tun oder zu sagen, was er oder sie tun oder sagen will – das geht nicht!

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