Wirtschaft: Bürokratie als Dauerärgernis
Was haben die Bremer Stadtmusikanten mit Bürokratie zu tun? Sie haben ein Problem unbürokratisch gelöst und sind dank Selbstverwaltung in das Haus der Räuber eingezogen. Dieses Märchen hat Prof. Raoul Kneucker, Verwaltungsforscher und einer der führenden europäischen Experten für Bürokratie, in seinem Buch: „Bürokratische Demokratie, demokratische Bürokratie“, verarbeitet. Der 84-jährige studierte und unterrichtete in Deutschland und den USA. „Die Gebrüder Grimm waren Juristen und wussten genau, was sie mit dieser Geschichte erzählen wollten.“ Kneucker nimmt in seinem Buch einige Anleihen aus der Weltliteratur, so auch bei Kafkas Novellen. „Bei Kafka geht es immer um die Grundsatzprobleme der Bürokratie. Seine Novellen bestechen durch absolute Fachkunde. ,Das Schloss‘ etwa bezieht sich auf die K.-u.-k.-Verwaltung.“ Kneucker fand heraus, dass Kafkas Lehrer Alfred Weber der Bruder von Max Weber war. Max Webers Bürokratiemodell wurde zur Basis für die Bürokratie von heute. Für Weber ist sie: „Eine idealtypische Form einer legalen und rationalen Herrschaft.“ Die wichtigsten Eckpfeiler seines Modells: Feste Hierarchien, strenge Zuordnung von Kompetenzen, vorgegebene Rechte und Pflichten der Amtsinhaber, Regeln, an die sie sich halten müssen, und schriftliche Amtsführung (Akten). Was heute selbstverständlich klingt, war damals revolutionär. Die Bürokratie bekam die Funktion einen „starken und unabhängigen Schutzschild gegen eine willkürliche Herrschaftsform“ zu sein. Doch ist sie das heute noch?
Bürokratie als Wertschöpfungsvernichter?
Eine Studie des Market-Instituts belegt, dass Jungunternehmen im Schnitt einen Arbeitstag pro Woche nur für Bürokratieaufwand (8,33 Stunden/Woche) verlieren. Und auch die Bertelsmann-Stiftung errechnete, dass rund 12 Prozent der Wertschöpfung eines Unternehmens von der Bürokratie verschlungen werden. Während andere Länder diese Kosten senken wollen und Systeme wie „one in, one out“ – sprich, dass für jede neue Regelung eine alte „rausfliegt“ – etablieren, scheint sich in Österreich wenig zu bewegen. Im Bürokratiekostenindex der Weltbank liegt Österreich auf Platz 44. Die Plätze eins bis drei gehen an Hongkong, Singapur und Überraschungskandidat Georgien. Dahinter folgt, ebenfalls überraschend, das scheinbar starr hierarchische China. Das bestplatzierte europäische Land sind die Niederlande auf Platz sieben. Übrigens: Österreich ist in guter Gesellschaft. Deutschland liegt auf Rang 41 und die als so unbürokratisch gepriesene USA nur zwei Plätze vor der Alpenrepublik.
Nicht schon wieder Luhmann
Sollten Sie studiert haben, (fast) egal was, werden Sie gezwungenermaßen auf den Namen Niklas Luhmann (1927 bis 1998) gestoßen sein. Luhmann schrieb 1964 das sperrig klingende Werk „Funktionen und Folgen formaler Organisation“. Es war die Grundlage für seine Systemtheorie, in der er vor allem die Bürokratie beschrieb. Luhmann meinte: „Wer ein Verwaltungsgebäude betritt, sieht Leute den Flur entlanggehen, Akten heraussuchen und bearbeiten, telefonieren, auf die Uhr schauen, Butterbrote essen. Die konkrete Lebenswirklichkeit der Verwaltung ist offenbar nicht nur mit Entscheidungen befasst.“ Der Deutsche sah Systeme wie den bürokratischen Apparat, der stark auf sich selbst bezogen (selbstreferenziell) ist – er spricht auch von „Autopoiesis“. Systeme grenzen sich von ihrer Umwelt ab und definieren sich nach ihrer Funktion. Ein berühmtes Zitat von ihm bringt das auf den Punkt: „Gerade Bürokratie ist bekanntlich ein System mit sehr geringer Störempfindlichkeit.“ Ist Bürokratie in diesem Sinne überhaupt reformierbar? Der Journalist und Autor Wolf Lotter unterscheidet in einem Essay in „Der Standard“ unter dem Titel „Die Diktatur des Bürokratiats“ zwischen Verwaltung und Bürokratie. Letztere bezeichnet er als „die böse Schwester der guten Verwaltung“ und meint: „Bürokratie ermöglicht niemandem etwas – außer sich selbst. Ihr Ziel sind der Selbsterhalt und der Status quo … Fail ist die Bürokratie nicht, sie ist sogar fleißig darin, das Immergleiche zu tun. Aber sie löst damit keine Probleme, sie verwaltet sie lieber.“
Es werden auf dem Rücken der Bürokratie oft ideologische Themen geritten, und das zerstört die Bürokratie.
Warum sind Bürokratiereformen so schwer umzusetzen?
Seit 1945 wird die Verwaltung reformiert. Für Prof. Raoul Kneucker ist aber bisher wenig herausgekommen. „In jeder Organisation, das haben wir von der Industrie gelernt, geht man von Visionen, Zielen und Strategien aus. Doch Ziele niederzuschreiben hilft nichts, wenn die Maßnahmen fehlen.“ Er bringt als Beispiel die Migrationspolitik. „Es gibt viele Zielsetzungen, aber es fehlen die Maßnahmen. Man geht daher gleich zu den bestehenden Instrumenten über, etwa Abschiebungen.“ Stattdessen, so Kneucker, wird die europäische Menschenrechtskonvention (MRK) diskutiert. „Jeder weiß, dass es durch eine eventuelle Änderung der MRK zu keiner Lösung der Asylfrage kommen wird. Dazu müssten wir den Rechtsstaat ändern. Die hohen Beamten hüten sich, in eine solche Diskussion einzusteigen. Es werden auf dem Rücken der Bürokratie oft ideologische Themen geritten, und das zerstört die Bürokratie.“ Ähnliches sieht er in der aktuellen Debatte um das Bundesheer. „Durch den Ukraine-Krieg haben wir Schwierigkeiten, unsere Neutralität zu verteidigen. Alle wollen, dass das Bundesheer diese Aufgabe ernst nimmt. Doch das Erste, was man hört, ist, wir brauchen so und so viele Milliarden, ohne, dass eine einzige Maßnahme am Tisch liegt.“
Es gibt kein Gesetz zur Verbesserung der Verwaltung
Kneucker sieht dabei gut gemeinte Ansätze in der österreichischen Bürokratiegeschichte. „In der Monarchie war die Bürokratie eine der wichtigsten Säulen des Staates. Mit der Gründung der Republik hat man darauf aufbauen können, doch sie war überdimensioniert. Es brauchte viele Jahre, um die Zahl zu senken. Der Regierung Schüssel ist es gelungen die Beamtenzahl von 340.000 auf 190.000 zu reduzieren.“ Doch, damals wie heute: „Eine echte Verwaltungsreform bleibt aus, weil es kein Gesetz gibt, das die Verbesserung der Verwaltung regelt, so etwas wie das betriebliche Innovationswesen der Industrie. In der Verwaltung ist das eher zufällig und hängt davon ab, ob es Leute gibt, die das machen.“ So ging der Einführung des elektronischen Aktes eine lange Diskussion voran, und sie wurde von den Sekretariaten befeuert. „Sie sahen, dass der elektronische Akt enorm effektiv ist. Mangelnde Koordination ist das größte Problem in der Verwaltung. Viele Dinge sind von zwei, drei, vier Ministerien zu behandeln und zu entscheiden, die Koordination fehlt aber oft.“
Es sind oft die vielen kleinen Nadelstiche, die Betriebe zur Verzweiflung bringen.
Bürokratie muss den Menschen dienen
Von diesem Mangel und die daraus entstehenden Sorgen und Nöten, kann Doris Hummer, Präsidentin der WKOÖ, fast täglich berichten. Hummer: „Es sind oft die vielen kleinen Nadelstiche, die Betriebe zur Verzweiflung bringen. Jeder ‚Fachexperte‘ sieht seinen eigenen, kleinen Bereich, aber unsere Betriebe trifft das bürokratische Gesamtpaket.“ Die Liste an bürokratischen Belastungen sei lang und bunt. „Das reicht von einer unglaublich komplizierten Lohnver-rechnung über die Evaluierung psychischer Belastungen der Mitarbeiter, Veröffentlichungspflicht in der Wiener Zei-tung, Abfallwirtschaftskonzepte für Betriebe mit haushaltsähnlichen Abfällen, einer Vielzahl von Unterweisungs- und Aufzeichnungspflichten, Begehungspflichten von Arbeitsplätzen ohne Unterscheidung der Risikolage und so weiter und so fort.“ Und sie fordert: „Die Bürokratie muss den Menschen dienen und nicht umgekehrt. Das Grundprinzip lautet: So wenig Bürokratie wie nötig, so viel Freiraum wie möglich.“
Mehr digitale Effizienz
Doch wo viel Schatten, ist auch Licht. So ist Österreich beim Thema E-Government im Vergleich relativ gut aufge-stellt. Roland Fürst, CFO von Hofmann Personal Österreich, kann das bestätigen: „Wir nutzen diese Tools sehr um-fangreich. Tatsächlich ist das E-Government in Österreich sehr ausgeprägt und es funktioniert auch sehr gut. Der Nachteil ist sicher, dass es bei rasch auftretenden Änderungen wie in der Pandemie, bei der Kurzarbeit und Co. an seine Grenzen stieß. Das war aber eine Ausnahmesituation.“ Noch mehr Effizienz würde aber nicht schaden, meint Hummer: „Das Ziel muss es sein, komplette Verfahren digital zu transformieren. Es geht um einen Datenaustausch und darum, dass mehrere Bearbeiter gleichzeitig an einem Einreichprojekt arbeiten können.“ Das Land OÖ hat dieses Problem bereits erkannt, so die Präsidentin: „Und das Projekt ‚Elektronische Plattform für AVG-konforme Verfahren‘ gestartet. Wir bringen hier die Sicht der Betriebe ein.“ Trotz Digitalisierungsschub: „Die öffentliche Hand muss auf ausreichend Personal achten. Gerade wenn man an die Herausforderung der ökologischen Transformation denkt, sind Fachleute auf Behördenseite wichtig, um die Energiewende möglichst rasch umzusetzen.“
Würgt die Bürokratie die Ökologisierung ab?
Genau bei dieser ökologischen Transformation steht die Bürokratie massiv in der Kritik. Genehmigungsverfahren, etwa für PV-Anlagen, dauern lang und sind mühsam. Auch davon kann Roland Fürst aus erster Hand berichten. „Das Fördersystem ist für eine rasche Energiewende nicht sehr hilfreich.“ Hofmann Personal musste den Antrag gleich dreimal stellen. „Wir haben ein sechsstelliges Investment geplant, das rund ein Drittel unserer Standorte in Österreich mit Strom versorgen soll. Im Frühjahr wurde es geplant und die Förderung beantragt. Man muss angeben, wie viel Förderung man möchte. Wir gaben 180 Euro an, der Maximalbetrag lag in diesem Förder-Call aber bei 179 Euro pro kW Peak. Wir sind dann mit dem geforderten Betrag runtergegangen und wurden ohne Begründung wieder abge-lehnt.“ Danach startete der Personaldienstleister den dritten Anlauf. „Der Prozess läuft nun schon neun Monate. So kann man die Energiewende abwürgen. Übersehen wurde dabei, dass die Preise für Module und Speichersysteme enorm gestiegen sind. Je länger der Prozess dauert, desto höher das Investment. Man fühlt sich an der Nase herum-geführt, das Ganze wirkt lächerlich. Man nimmt schließlich viel Geld in die Hand, um einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten.“
Dauerbaustelle Förderungen
Die Bürokratie rund um Förderungen ist ein echtes Reizthema der Wirtschaft. Hummer: „Bei vier Förder-Calls pro Jahr nach dem First-come-first-served-Prinzip waren Schwierigkeiten vorprogrammiert. Also ein Projektstau bis zum Förderstart, Tausende Anträge binnen weniger Minuten, die Ablehnung vieler Anträge und ein weiterer Projektstau. Wir brauchen eine ausreichende Dotierung eines Förderbudgets mit fortlaufender Einreichmöglichkeit oder zumin-dest eine Entspannung der Lage durch mehr Förder-Calls.“ Ein Beispiel für die verwirrende Fördergestaltung in Ös-terreich bringt Gerald Hackl, Vorstandsvorsitzender der VIVATIS Holding AG: „Wir haben Standorte derselben Gesellschaft in bis zu vier Bundesländern. In allen gelten andere Kriterien. Wenn wir in Oberösterreich bauen, gibt es andere Vorschriften als in Kärnten.“ Auch bei den Landesförderungen: „Man steht als Unternehmer oft da und weiß nicht, ob man sie überhaupt beantragen kann. Bekommt man eine Zusage, dauert es ewig, bis es zu Auszahlungen kommt.“ Für Hackl fehlt die Kommunikation über diese Förderrichtlinien. „Größere Betriebe wie wir halten das aus, aber kleinere Betriebe tun sich schwer. Sie brauchen Planungssicherheit.“ Hackl fordert wie viele eine zentrale koor-dinierende Stelle, dazu brauche es auch Ressourcen für fachspezifische Themen. Franz Gasselsberger, Generaldi-rektor der Oberbank, pflichtet dem bei und er sieht ein weiteres Problem in der Koordination von Förderungen: „Es sind verschiedene Ministerien zuständig, welche die Richtlinien und die Dotierung von Jahresförderprogrammen aufstellen. Die Förderperiode startet bei uns aber nicht mit 1.1., sondern erst im April. Keiner weiß, wie diese dotiert sind. Warum ist es nicht möglich, zu Jahresbeginn die Förderungen zu veröffentlichen? Das würde den Unternehmen viel mehr Orientierung bringen.“
Eine echte Verwaltungsreform bleibt aus, weil es kein Gesetz gibt, das die Verbesserung der Verwaltung regelt, so etwas wie das betriebliche Innovationswesen der Industrie.
Die vielen Paradoxa der Bürokratie
Für den Bürokratieforscher liegt der Hund in den Paradoxa der Verwaltung begraben. „Ab einer gewissen Größe wird bürokratisiert. Organisationen und auch Selbstverwaltungen werden bürokratisch, obwohl das gar nicht notwendig wäre.“ Die öffentliche Verwaltung lernt, so Kneucker, zwar von der Industrie, etwa bei der Serviceverwaltung, aber „leider nicht richtig“. Und auch hier sieht er ein Paradoxon: „So wie sich Serviceverwaltung in der öffentlichen Verwaltung langsam ausdehnt, hat sich die Bürokratie in der Industrie breitgemacht.“ Eine echte serviceorientierte Verwaltung ist für Doris Hummer jedenfalls die zentrale Vision, die es umzusetzen gilt: „Jeder ‚Bürokratieproduzent‘ sollte sich in sein Gegenüber hineindenken und überlegen, womit dieser insgesamt bereits belastet ist. Und erst dann überlegen, ob es noch weitere Melde-, Prüf-, Aufzeichnungs-, Aufbewahrungs-, Unterweisungs-, Veröffentlichungs-, Genehmigungs-, Begehungs- und Belehrungspflichten wirklich braucht.“ Von einer solchen Serviceverwaltung ist die Republik aber noch weit entfernt.
Bürokratie als organisatorische Notwendigkeit
Dennoch bleibt Kneucker beim Thema „schlanker Staat“ und Selbstverwaltung skeptisch. „Marx etwa glaubte, dass mit dem Absterben des Staates die Bürokratie absterben wird. Doch die Vorstellung, dass der Staat ersetzt werden kann, ist eine Illusion. Marx hat gehofft, dass der bürgerliche Staat verschwindet und durch Selbstverwaltung ersetzt wird. Diese Vorstellung mag ideologisch liebenswürdig gemeint sein, doch es ist so nicht möglich. Nach der Oktoberrevolution hat Lenin den Staat sogar ausgebaut.“ Die Sowjetunion ist das beste Beispiel dafür, dass der Staat keine bürgerliche Erfindung ist, sondern „eine organisatorische Notwendigkeit“. Für Kneucker besteht die einzige Hoffnung darin, dass die Bürokratie menschlicher, sparsamer und effizienter werden könnte und dass die Beamten „so erzogen werden, dass sie mit den Kunden so umgehen, wie sie es selbst gerne hätten, wie mit ihnen umgegangen wird. Das ist ein hohes Ziel.“ Doch der Professor macht sich wenig Hoffnungen: „Menschen in Machtpositionen verlieren oft die Augenhöhe. Im Verfahrensrecht der Verwaltung haben wir den Hinweis, dass der Kunde, die Partei, anzuleiten ist, wenn er sich nicht auskennt, aber das muss man können und nicht der Böswilligkeit opfern.“
12 Prozent der Wertschöpfung werden von der Bürokratie verschlungen.
Plädoyer für eine effiziente Verwaltung
Wie in den Interviews ersichtlich, läuft auch einiges in die richtige Richtung und selbst der Forscher hält die Bürokratie in Österreich für unterschätzt. „Das Allgemeine Verwaltungsgesetz AVG ist ein echter Benchmarkt. Auch werden einige Justizgesetze wie das Konkursverfahren oder das Grundbuch international gelobt und hervorgehoben.“ Dennoch ist das Image im Keller: „Es gibt nach wie vor das unausrottbare Klischee der Bürokratie als starres Monster. Sie ist angstbesetzt und dem kann man mit politischer Kommunikation begegnen.“ Und natürlich mit Reformen und Taten. Und was bleibt als Conclusio? In den Interviews aus den verschiedensten Branchen werden immer zwei zentrale Themen angesprochen: Der Mangel an Koordination und Kommunikation. Zu diesen gesellt sich eine gewisse Intransparenz. Vielleicht könnte sich die Bürokratie da etwas von den Bremer Stadtmusikanten abschauen. Sie haben miteinander kommuniziert, einen klaren, transparenten Plan geschmiedet und koordinativ ein hocheffizientes Ergebnis erzielt – sprich: die Räuber verscheucht. Ohne gute Abstimmung verscheucht die Bürokratie in diesem Lande aber nur die Unternehmen.