Warum Corona ein Glücksfall sein könnte
LEKTION. Wie uns das Virus zwingt - gleichsam wie in einem großen kollektiven Seminar - nach neuen Lösungswegen zu suchen.
Vor kurzem wurde ich an einen Witz erinnert, der im angelsächsischen Sprachraum als Streetlight Effect (Straßenlaternen-Effekt) bekannt ist. Die kurze Story: Ein Polizist hilft nachts einem Betrunkenen im Lichtkegel der Straßenlaterne, dessen Schlüssel zu finden. Nach einiger Zeit steht der Polizist genervt auf und fragt den Betrunkenen, ob er sicher sei, dass er hier die Schlüssel verloren habe. Worauf dieser antwortet, dass er den Schlüsselbund an diesem Ort zwar nicht verloren habe, aber den Boden absuche, „weil hier das Licht ist!“ Der Straßenlaternen- Effekt beschreibt die verzerrte menschliche Wahrnehmung, nach Lösungen zu suchen, die uns am einfachsten erscheinen. Während der Pandemie gab es viele, die dem Streetlight Effect erlegen sind. Aber wer könnte es ihnen verübeln?
Ko-Immunität erlernen
Der Philosoph Peter Sloterdijk prägte den Begriff der Ko-Immunität. Er meint, dass Corona ein soziologischer Glücksfall sei, weil wir ein großes Seminar durchlaufen, in dem das Wort „Immunität“ eingeübt wird. Dabei sei die einseitige Betonung auf die medizinische Immunität ein Fehler. Denn Immunität sei zuerst eine alte juristische Metapher gewesen, die von Ärzten im 19. Jahrhundert gekapert worden ist.
Der Straßenlaternen- Effekt beschreibt die verzerrte menschliche Wahrnehmung, nach Lösungen zu suchen, die uns am einfachsten erscheinen.
Sloterdijk geht nun noch weiter zurück und sagt, dass auch die alten religiösen Systeme so etwas wie Schirme gewesen sind, unter denen sich Menschen sicher fühlen können. Sicherheitsgefühle sind immer Derivate von immunisierenden Institutionen. Der Begriff „Immunsystem“ kann also ausgeweitet werden als Gemeinschaftswerk. Ohne diese Lebenssicherheit gelingt Leben in der Regel kaum.
Ein „V-Day“ der Forschung
Die naheliegende Hauptlektion, dass man nicht allein immun ist, üben wir alle gerade ein. Auch die medizinische Community. Der bekannte Linzer Mediziner Bernd Lamprecht meint im Interview gegenüber CHEFINFO, es wäre noch nie der Fall gewesen, dass konkurrierende Pharmakonzerne, Forscher, Institutionen, Behörden und Regierungen derart eng und lösungsorientiert zusammengearbeitet haben. Das Ergebnis sind die Covid-Impfstoffe, deren Entwicklung und Genehmigung in der Regel sonst viele Jahre beanspruchen. Es ist ein völlig neuer, ein genbasierter Impfstoff am Markt – und es ist eine gewaltige Gemeinschaftsleistung der Konzerne. Wenn in den kommenden Monaten auch noch die Meisterleistung der logistischen Verteilung gelingt, hat die Menschheit vielleicht doch eine Lektion gelernt. Nicht von ungefähr nennt man in England den Start der ersten Impfungen – angelehnt an den D-Day im Zweiten Weltkrieg – V-Day. V steht für Vaccine (Impfung) - und für einen steilen konjunkturellen Aufschwung.