Reise in die Vergangenheit des World Wide Web
Es sorgte für einen Twittersturm sondergleichen. Die ehemalige Digitalisierungsministerin Margarete Schramböck lobte europäische Innovationskraft, etwa mit der Erfindung des Internets am CERN. Schramböck verwechselte das Internet, das in seiner Urform bereits seit den 1950ern existierte, mit dem WWW. Eben jenes WWW, das die Nutzung des Netzes für eine breite Masse ermöglichte, wurde tatsächlich am CERN erfunden und feierte am 6.8.1991 seine Weltpremiere. Seit 30.4.1993, also seit 30 Jahren, ist das WWW für die Öffentlichkeit frei zugänglich. „Das Web hat das Potenzial, uns als Menschheit zu vereinen. Wir müssen sicherstellen, dass es für alle zugänglich und offen bleibt“, sagte Erfinder Tim Berners-Lee. Der Brite arbeitete schon in den 1980er-Jahren an einem Konzept eines freien Internets, heimlich, wie er betonte: „Ich hatte nie einen Auftrag dazu.“ 1989 folgte der erste Durchbruch mit der neuen Sprache HTML (Hypertext Markup Language) und dem neuen Protokoll http (Hypertext Transfer Protocol). http dient zur Übertragung von Webseiten zwischen Servern und Clients. Seit 1990 ist Österreich übrigens ans Internet „angeschlossen“. Es gab eine erste Standleitung zur Universität Wien.
Archie – die „Ur-Suchmaschine“
Doch von einem weltumspannenden Internet war Berners-Lee noch lange entfernt. Die Vision des Briten war aber bereits klar: „Ich habe das Web nicht erfunden, um eine weitere Softwareplattform zu schaffen. Ich habe es erfunden, um die Welt zu verändern.“ Das ist ihm gelungen. Das CERN wurde so vom Teilchenbeschleuniger zum Zeitenbeschleuniger. Das WWW war der erste Webbrowser der Welt. Nur dauerte es noch zwei Jahre, bis es seinen globalen Siegeszug antreten konnte, denn anfangs konnten auf das WWW nur Computer mit dem Betriebssystem NeXTSTEP zugreifen, das fast ausschließlich in der akademischen Forschung verwendet wurde. Erst 1993 konnten andere Betriebssysteme auf das WWW zugreifen. Ebenfalls
vor 30 Jahren wurde der erste Suchdienst namens „Archie“ entwickelt. Archie leitet sich von „archive“ ab und wurde von den Studierenden Alan Emtage, Peter Deutsch und Bill Heelan an der Universität Montreal entwickelt. Diese erste zentrale Datenbank archivierte erstmals auch Dateien auf FTP-Servern. Und noch eine Innovation ebnete vor 30 Jahren den Weg des WWW, der erste kommerzielle Webbrowser, Mosaic, wurde veröffentlicht. 2023 ist also in mehrerlei Hinsicht ein Jubiläumsjahr für „eine der mächtigsten Erfindung in der Geschichte der Menschheit. Es hat die Art und Weise verändert, wie wir leben, arbeiten und miteinander kommunizieren“, wie Tim Berners-Lee später sagen sollte.
1994: 1.611 registrierte Domains
Auch wenn 1993 der kostenlose Zugang zum WWW und damit der Grundstein für die kommerzielle und private Nutzung des Netzes gelegt wurde, gab es in Österreich erst 1994 die .at-Domain. In diesem Jahr kamen auch die ersten Internet Service Provider auf den Markt: EUnet und ACOnet. Modems, mit denen man sich einwählte, leisteten gerade einmal 28,8 Kbit/s. Internet war teuer und langsam. Ein Kuriosum: 1994 konnte man eine E-Mail-Adresse ohne Internet kaufen. Anfang 1994 gab es weltweit 1.611 registrierte Domains, mittlerweile sind es über 349 Millionen Webadressen. Über fünf Milliarden Menschen weltweit haben Zugang zum Internet. 93 Prozent der Österreicher nutzen das Web, 1994 waren es 3 Prozent. Tim Berners-Lees Vision wurde Realität.
Zurück zum Ursprung mit „Solid“?
Zeitensprung. Mittlerweile ist das Internet längst eine kritische Infrastruktur geworden, auf die wir kaum verzichten wollen bzw. können. Homeoffice, Onlinedating, Kryptowährungen, Blockchain, E-Commerce, E-Sports, ERP- bzw. SPS-Systeme oder überhaupt die Globalisierung wären ohne das Web nicht möglich. Die Schattenseiten: Onlinekriege, Trollarmeen, Fake News, Cyberkriminalität, Drogen- und Waffenhandel im Darknet. Wie Tim Berners-Lee einmal meinte, lagen all diese Dinge außerhalb seiner Fantasie. Für ihn war das Web stets ein Enabler. Dass eine der ersten kommerziellen Branchen im Web die Pornoindustrie war, gilt als unbestritten. Sie wird sogar als „Mitgründer“ des Internets genannt. Selbst Berners-Lee meinte resignierend: „Der Legende nach wird jede neue Technologie zuerst für etwas verwendet, das mit Sex oder Pornografie zu tun hat. Das scheint der Weg der Menschheit zu sein.“ Doch der Erfinder gibt nicht auf. Das Internet soll wieder zu der sozialen Maschine werden, die er bereits 1989 im Sinn hatte. „Das World Wide Web ist mehr als nur ein Technologie-projekt. Es ist eine soziale und politische Schöpfung.“ Seine neue Vision ist es, das Web den Menschen wieder zurückzugeben. „In meiner Vision für eine alternative digitale Welt gibt es zwar all die Nutzerdaten von heute, aber die Nutzer selbst verfügen über sie.“ Möglich machen soll das ein dezentrales Internet, das die Marktmacht von Monopolisten und Tech-Giganten brechen soll. Die Open-Source-Initiative namens Solid soll das möglich machen.
Von Berners-Lee Vision 2.0 zu seinem Albtraum 4.0
Doch warum will er wieder „zurück zum Ursprung“? Nach 2.0, in dem User selbst zu Distributoren und Medienschaffenden wurden via Blogs, Vlogs oder über Social-Media-Kanäle, ist das Web 3.0 eine Art semantisches Netz. Alle Dinge sollen miteinander verbunden werden. Das Internet der Dinge (IoT) vernetzt Fußgängerampeln mit Telematik im Auto oder am Fahrrad, schlägt Alarm, wenn die Vitaldaten im intelligenten Bett verrückt spielen, und verknüpfen ganz generell Menschen mit Technologien. Computer können so eigenständig agieren. Doch es steht bereits die nächste Evolutionsstufe an – das Web 4.0. Es ist die bislang letzte Stufe der 30-jährigen Entwicklung des Webs. Künstlicher Intelligenz kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Das Web 4.0 wird auch symbiotisches oder smartes Netz genannt. Das Internet wird zu einem integralen Bestandteil unseres Lebens, es ermöglicht das Eintauchen in virtuelle Welten mittels Virtual Reality.
Wir „gehen“ nicht online, wir sind es bereits
Das Internet wird „überall“ sein. Wir „gehen“ nicht mehr ins Netz, wir sind bereits im Netz. Ein Netz, das fragmentierter werden könnte. Entsprach das Web 2.0 mit seinem usergenerated Content noch ganz nach dem Geschmack von Tim Berners-Lee, verlässt seine Erfindung mit Deepfakes und einer nie dagewesenen Marktmacht einiger weniger Spieler diese Ideale. KI hat nicht nur das Potenzial, analytische Berufe wie Steuerberater, Juristen oder Diagnostiker in der Medizin zu ersetzen, sie bedroht auch die Kreativwirtschaft. Ein Wirtschaftszweig, dem Tim Berners-Lee einst eine große Zukunft prophezeite, könnte substituiert werden. KI kreiert heute schon Texte, Bilder und sogar Videos. Je komplexer die Technologie, desto weniger Spieler bleiben am Spielfeld. Der technologische Vorsprung einiger weniger scheint zu groß zu sein. Das bezieht Berners-Lee nicht nur auf Tech-Konzerne, sondern auch auf Staaten. Die hohe Marktmacht und der wachsende politische Einfluss auf das Web – Stichwort Abschaltungen oder Kontrolle des Webs in autoritären Staaten – sind der Albtraum des Briten. Nicht zuletzt deshalb warnt Tim Berners-Lee bei jeder Gelegenheit davor, seine Ursprungsvision ad absurdum zu führen. „Das Web ist ein wichtiger Teil unseres täglichen Lebens und wir müssen es schützen. Wir müssen sicherstellen, dass es ein offenes und freies Medium bleibt.“ So frei, wie er es am 30.4.1993 in die Welt entlassen hatte.