Landesrätin Gerstorfer über Pflege als Chance
Die Bedeutung einer zuverlässigen Versorgung für pflegebedürftige Menschen ist durch die Corona-Krise noch stärker in den Vordergrund gerückt. Im Interview spricht Sozial-Landesrätin Birgit Gerstorfer über aktuelle Herausforderungen und neue berufliche Perspektiven für Arbeitslose.
CHEFINFO: Die geburtenstarken Jahrgänge, die Babyboomer, nähern sich dem Pensionsalter. Was bedeutet das für den Pflegebereich?
Birgit Gerstorfer: Diese Generation beginnt ab dem Geburtsjahr 1955. Das durchschnittliche Eintrittsalter in das Pflegeheim ist 83, wir haben also noch etwa 20 Jahre, bevor wir mehr Pflegekapazitäten benötigen. Aber diese Altersgruppe beschäftigt uns stark bei den Beschäftigten, weil wir einen verstärkten pensionsbedingten Ausstieg aus Pflegeberufen haben. Wir spüren einen Mangel, weil wir wegen Personalmangel viele Betten nicht belegen können. Darauf müssen wir mit zusätzlichen Ausbildungsangeboten reagieren. Und wir machen bereits sehr viel: Von der Ausbildung für Personen, die jünger als 17 Jahre sind, bis hin zu Flexibilisierungen und stärkeren Regionalisierungen der Ausbildungen.
CHEFINFO: Können durch die hohen Arbeitslosenzahlen mehr Menschen für die Pflegeausbildung gewonnen werden?
Gerstorfer: Wir haben im Juli im Zuge einer Kooperation mit dem AMS rund 5.000 ausgewählte Personen angeschrieben, um ihnen ein freiwilliges Angebot zu machen, sich über die Pflegeausbildung zu informieren. Es ist uns dadurch gelungen, unsere Ausbildungsplätze im Herbst zu füllen, was in den Jahren davor trotz vieler Bemühungen nicht gelungen ist.
CHEFINFO: Sie wurden im Herbst von der FPÖ dafür kritisiert, den vom Stellenabbau bei der FACC betroffenen Mitarbeitern eine kostenlose Pflegeausbildung anzubieten. Ist dieser Vorschlag wirklich so „realitätsfern“, wie von der FPÖ behauptet?
Gerstorfer: Wenn man weiß, aus welchen Branchen Umschuler in die Pflege kommen, dann gibt es hier kein Tabu. Die Menschen kommen von überall. Wenn an einem Standort wie in Ried ein Unternehmen um die 650 Menschen kündigt und man sich auch mit dem beschäftigt, wie die Struktur der zukünftigen Arbeitslosen ist, dann ist das alles andere als „realitätsfern“. Einerseits wird das Lohnniveau bei der FACC überschätzt, und andererseits haben die Leute eine falsche Vorstellung davon, welche Qualifikationen die zukünftigen Arbeitslosen haben. Es ist nämlich nicht so wie in der Öffentlichkeit dargestellt, dass es sich um lauter Ingenieure, Techniker oder andere hochqualifizierte Beschäftigte handelt. Der weit größere Teil derer, die ihren Arbeitsplatz verlieren, sind ungelernte Arbeitskräfte. Die verdienen bei der FACC ein Gehalt, das mit einem Gehalt in der Pflege vergleichbar ist. Außerdem handelt es sich um ein vollkommen freiwilliges Angebot. Ich will niemanden in die Pflege zwingen, sondern Möglichkeiten aufzeigen. Im Bezirk Ried und im Bezirk Braunau haben wir eine richtige Ballung von leeren Pflegebetten. Wenn wir dort Leute hinbringen können, dann ist das ein Gewinn für alle.
Wir sind es der jetzigen und auch der zukünftigen älteren Generation schuldig, ihnen Sicherheit zu bieten.
CHEFINFO: Werden wir uns in Zukunft Pflege noch leisten können?
Gerstorfer: Da kann es meiner Meinung nach nur eine Antwort geben: Wir sind es der jetzigen und auch der zukünftigen älteren Generation schuldig, ihnen die Sicherheit zu bieten, dass Pflegeversorgung im Alter gewährleistet ist. Punkt. Und natürlich werden mit Zunahme der Pflegebedürftigen auch der Pflegeaufwand und die damit verbundenen Kosten größer – so wie es jetzt finanziert ist, wird es nicht funktionieren. Die derzeitige Finanzierung auf Gemeindeebene geht noch auf Maria Theresia zurück. Bereits jetzt kostet der Bereich Pflege den Gemeinden ein Viertel ihres Budgets. Wenn wir in 20 Jahren dann einen Zuwachs von über 50 Prozent an Pflegebedürftigen haben, dann wird das nur über ein steuerfinanziertes System bewältigbar sein. Das kann aber nicht durch eine zusätzliche Steuerbelastung für Beschäftigte sein. Wir haben eine massiv ungerechte Verteilung von Vermögen in diesem Land. Wir brauchen eine Steuer, die Vermögen belastet – und wir müssen auch dorthin schauen, wo mit wenig Arbeitskraft viel Gewinn produziert wird.