E-Bike-Boom: Das Rad neu erfinden
Verrückte Pandemie-Zeiten: Während die einen unter mangelnder Auftragslage leiden, kommt die Fahrradindustrie wegen der enormen Nachfrage ins Schwitzen. Der weltweite E-Bike-Boom bringt Lieferketten unter Druck, erklärt Stefan Limbrunner, Geschäftsführer der KTM Fahrrad GmbH: „Wir haben derzeit 365 Tage Lieferzeit für manche Teile. Für High-EndGabeln um die 3.000 Euro sogar 480 Tage.“ Planungssicherheit – von Kultur und Wirtschaft flehend herbeigesehnt – hat den Fahrradhersteller nur kurz während des ersten Lockdowns verlassen.
Gute Wachstumsaussichten
Der Trend zum E-Bike ist langfristig, hohe zweistellige Wachstumsraten sind für die kommenden Jahre prognostiziert. Der europäische Markt für E-Bikes soll sich bis 2025 verdreifachen. Corona erweist sich dabei aufgrund von Social Distancing als zusätzlicher Antrieb. Verließen im abgelaufenen Geschäftsjahr 160.000 Elektrofahrräder das KTM-Fahrrad-Werk, sind es in diesem Jahr 240.000 und nächstes Jahr 290.000 Einheiten. Insgesamt werden von den 500 Mitarbeitern am Standort Mattighofen heuer 450.000 Bikes produziert. Der Umsatz wird von 350 Millionen Euro im Vorjahr auf heuer 500 Millionen Euro steigen; nächstes Jahr sind 630 Millionen Euro geplant.
Umsatzanteil von 75 Prozent
Dem E-Bike sei Dank, das sich als Absatz-Rakete entpuppt hat. Bei den Innviertlern hat diese Produktkategorie bereits einen Umsatzanteil von 75 Prozent. 2008 wurden rund 1.000 E-Bikes produziert. Das erste Fahrrad mit Elektroantrieb präsentierte der Hersteller in den 1990er Jahren. Das Ungetüm war 35 Kilo schwer und hatte eine Reichweite von 35 Kilometern. „Damals wurde es abschätzig als mobile Gehhilfe bezeichnet“, erinnert sich der gebürtige Bayer und Wahlösterreicher Limbrunner.
Das Image des E-Bikes hat sich komplett gewandelt, weil sich auch das Fahrrad gewandelt hat. Am Anfang waren E-Bikes Tiefeinsteiger für Senioren, die Batterie war sichtbar am Gepäckträger angebracht. Heute sind die Fahrräder optisch unauffälliger, sportlicher, lifestyliger. Limbrunner vergleicht die Entwicklung mit dem Erfolg des SUV am Automobil-Sektor: Es ist ein Gerät, das alle Stückerl spielt, hohe Energiereserven hat und trotzdem nur 20 kg wiegt. „Sie können mit dem E-Bike heute problemlos den Großglockner hinauffahren“, sagt der Manager. E-Bikes haben Reichweiten von bis zu 200 Kilometern – das sei eine längere Strecke, „als der Hintern hält“.
Halbe Million E-Bikes in Österreich
Vom Bodensee bis zum Neusiedlersee sind rund 480.000 von diesen Elektroflitzern unterwegs. Jedes vierte Fahrrad ist motorbetrieben. Freaks zahlen inzwischen hohe Preise für High-End-Mountain-E-Bikes, die 10.000 Euro und mehr kosten. Der wichtigste Umsatzbringer ist jedoch die Masse der Trekking-Radfahrer, die gemütlich die Donau entlangfährt oder den See während des Urlaubs umrundet. „Technisch sind wir beim E-Bike heute, um ein Bild zu bringen, etwa bei einem iPhone 5, also da geht noch was“, sagt der KTM-Macher.
Motoren werden leichter, Batterien kompakter. Die Akkus sind mit 625 Wattstunden viel reichweitenstärker als noch vor wenigen Jahren mit 300 Wattstunden. Einer der Ausrüster, der vom E-Bike-Boom profitiert, ist der weltgrößte Autozulieferer Bosch. Das Unternehmen hat aufgrund des Wachstums mit Bosch eBike Systems GmbH eine eigene Sparte gegründet, die Antriebe für unterschiedliche Bedürfnisse anbietet – inklusive für die wachsende Zahl von Lastenrädern. Für E-Mountainbikes haben die Deutschen einen Motor entwickelt, der mehr als die dreifache Kraft des Radlers zur Verfügung stellt. So ein Fahrradmotor ist ein Hightech-System: Sensoren ermitteln permanent Drehmoment, Geschwindigkeit und Beschleunigung, damit die Fahrer das Rad jederzeit sicher beherrschen können. Es ist das Ende des Fahrrads, wie wir es kennen. Selbst bei Rennrädern findet die Entwicklung zeitverzögert statt. Da der Elektromotor die Muskelkraft nicht ersetzt und sie nur unterstützt, ist auch bei Sportpuristen ein Umdenken zu bemerken.
Standort wird jährlich ausgebaut
Dass die Nachfrage-Kapazitäten derzeit nicht bedient werden können, sei ein großer Nachteil und eine herausfordernde Managementaufgabe, sagt Limbrunner. Das Unternehmen hat die Baugenehmigung für drei weitere Lager eingereicht. Fast jedes Jahr wurde in den Standort Mattighofen in den vergangenen Jahren investiert. In den letzten beiden Jahren wurden für 20 Millionen Euro eine Produktionshalle und ein Logistikcenter gebaut. Nun folgen Lager für Parts und Produktionsware. Neu strukturiert wurden auch die Arbeitsprozesse: Statt Zweimann-Teams gibt es nun Linienfertigung mit 13-Mann-Teams, was die Flexibilität erhöht.
KTM mal zwei plus Husqvarna
Das Besondere an der Stadt Mattighofen mit ihren 6.927 Einwohnern ist die Tatsache, dass es KTM als getrennte Unternehmen gleich zwei Mal gibt. Die geschichtlichen Wurzeln dafür reichen zurück bis zur Pleite der KTM Motor-Fahrzeugbau Anfang der 1990er Jahre und zur Filetierung der Unternehmensteile durch den Masseverwalter. Die gebürtige Taiwanesin Carol Urkauf-Chen hat die Fahrradsparte 1991 mit dem Salzburger Unternehmer Hermann Urkauf, dem Ex-Mann der heutigen Eigentümerin, übernommen. Die Motorradsparte holte sich eine Holding rund um Stefan Pierer, heute Pierer Mobility AG. Damals wurden exklusive Markennutzungsrechte für die jeweiligen Bereiche festgeschrieben.
Das hat lange gut funktioniert – bis der Run auf die E-Bikes einsetzte und Pierer sich ein Stück von dem Kuchen abschneiden wollte. Im Vorjahr entschied das Landesgericht Wels, dass die Verwendung der Marke „KTM“ exklusiv KTM Fahrrad vorbehalten sei. Schon davor ging Pierer ein Joint Venture mit dem deutschen Unternehmen Pexco ein, wodurch das Unternehmen mit den Marken „Husqvarna Bicycles“ und „R Raymon“ ins E-Bike-Business eingestiegen ist.
Pierers Drei-Marken-Strategie
Im Dezember 2020 wurde die Pexco GmbH samt Tochtergesellschaften zur Gänze übernommen und mit der Pierer E-Bikes GmbH (vormals Husqvarna E-Bicycles GmbH) nun ein eigenes Segment der Pierer Mobility-Gruppe. Im stark wachsenden E-Bike-Bereich will sich die Gruppe mittelfristig zu einem bedeutenden internationalen Player entwickeln. Das Ziel: Bis 2025 soll ein jährlicher Umsatz von 500 Millionen Euro erwirtschaftet werden. Treiber für das Wachstum ist unter anderem die internationale Expansion, insbesondere auf dem europäischen Markt, aber auch Märkte wie Nordamerika und Australien bieten laut dem Unternehmen ein großes Potenzial. „Die E-Mobilität wird ein riesiger Markt und die einspurige Elektrowelt in Zukunft hochattraktiv“, sagt Stefan Pierer, CEO der Pierer Mobility. Schätzungen zufolge wurden 2020 auf dem europäischen Markt insgesamt rund 3,4 Millionen und in Nordamerika rund 300.000 E-Bikes verkauft. Zum Absatzwachstum soll auch die dritte, neu gegründete Fahrradmarke „Gasgas Bicycles“ beitragen, die sich auf die Zielgruppe der Offroad-Enthusiasten konzentriert. Gasgas ist ein 1985 gegründeter spanischer Motorradhersteller, der im Vorjahr von der Pierer Mobility Gruppe zur Gänze übernommen wurde.
Kompetenzzentrum für E-Mobilität
Während der Motorradhersteller KTM AG ein wichtiger Arbeitgeber der Region ist, wird der Zuwachs an Arbeitsplätzen durch die Pierer E-Bikes GmbH vergleichsweise eher überschaubar bleiben. Der überwiegende Teil der Beschäftigten befindet sich in der deutschen Stadt Schweinfurt. Ein eigenes Kompetenzzentrum für E-Mobilität wurde zu Jahresbeginn in einem neuen Gebäude in Anif bei Salzburg angesiedelt. Hier werden bis zu 400 Mitarbeiter beschäftigt sein und daher auch einige neue Mitarbeiter aufgenommen. In diesem E-Mobilität-Kompetenzzentrum bündelt Pierer das Know-how und die Aktivitäten im Bereich der Elektromobilität: Hier werden alle Zukunftskonzepte von der 48-Volt-Plattform (15 PS) über Elektrofahrrad bis hin zum Elektromotorrad – von der Freeride light bis zu einem Elektroroller in der 125er Klasse – entwickelt.
Immer mehr Startups mischen mit
Die Gründerszene war immer schon vom Bike angetan und mischt auch im E-Bike-Markt mit. Zu den erstaunlichsten Erfolgsgeschichten zählt das 2013 von zwei Wienern in einer Garage gegründete Unternehmen woom, das inzwischen zu den erfolgreichsten Kinderfahrrad-Marken Europas zählt. Im Vorjahr wurde das erste E-Mountainbike für Kinder präsentiert.
Einen anderen, aber nicht weniger spannenden Weg geht Christoph Fraundorfer, Co-Gründer des 2017 in Linz etablierten Unternehmens My Esel GmbH, das Fahrräder aus Holz herstellt. „Das war von Anfang an die Idee, wie kleine italienische Manufakturen Fahrräder nach Maß zu fertigen. Der Unterschied ist, wir können dies auch bei 1.000 Rädern in einem Serienprozess machen“, sagt der gelernte Architekt.
Verdoppelung des Absatzes
2020 hat das Unternehmen mit Sitz in Traun rund 800 Räder verkauft, 2019 waren es noch 400, 2018 rund 100 Einheiten. Laut Fraundorfer gibt es bereits viele Vorbestellungen für das Jahr 2021: „Wir planen auch heuer wieder eine Verdoppelung des Absatzes.“ Expandieren will der gebürtige Perger im deutschsprachigen Raum. „Uns geht es darum, vernünftig zu wachsen. Wir wollen uns regional mit einem Premiumprodukt als Marke etablieren“, erklärt der Gründer.
Produziert wird in Österreich, gearbeitet wird mit regionalen Hölzern und Ressourcen. Die Rahmentechnik aus Leichtholzverbund kommt vom Mitgründer Heinz Mayrhofer, der Chefentwickler beim Skihersteller Fischer war. Gefertigt werden die Rahmen von der High-End-Tischlerei SFK in Kirchham bei Vorchdorf. „Da sind sehr viel Forschung und Entwicklung in der Region passiert. Wir nutzen dieses Potenzial und gehen nicht nach Taiwan, wo der Großteil des Know-hows der Rahmenproduktion ist.“ Selbst die Diebstahlsicherung – für die E-Bikes ein wesentlicher Faktor – kommt von einem Tiroler Startup. „Wir waren die ersten, die GPS-Tracker in Rahmen verbaut haben“, sagt der „My Esel“-Boss. Dass sich das Mobilitätsverhalten in den Städten ändern wird, steht für Fraundorfer fest. Mehr Menschen überlegen sich, ob sie wirklich zwei Autos benötigen.
DIENSTRAD STATT DIENSTAUTO
Steuerschonend mit dem E-Bike statt mit dem Auto zur Arbeit: Mit willdienstrad.at ging im Februar eine für Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen attraktive Finanzierungs- und Kooperations-Plattform für Jobräder an den Start. In Deutschland ist das Jobrad-Modell seit Jahren erfolgreich. In Österreich ist Ähnliches seit 2020 möglich. Es braucht finanzielle Anreize, um die Menschen vom Auto aufs Fahrrad zu bringen. Im Zentrum steht die monatliche Finanzierungsrate über eine Gehaltsumwandlung vom Brutto-Monatslohn des Arbeitnehmers, erklärt Harald Bauer, Geschäftsführer von willdienstrad.at.
Vorteile für alle
Arbeitgeberseitig fallen geringere Lohnnebenkosten durch reduzierte Bruttolöhne an. Außerdem wird eine klima:aktiv-Förderung in der Höhe von 350 Euro pro E-Bike ausbezahlt. „Wir bringen alle relevanten Player auf unserer Plattform zusammen“, sagt Bauer. Arbeitgeber sind vertraglich gebunden, aber die Leistungen sind für sie kostenlos. Der Arbeitnehmer kauft das Dienstrad beim Sportfachhandel, der willdienstrad.at von seiner Marge etwas abtreten muss. Im Boot sind eine Bank und eine Leasinggesellschaft. Mit 20 Euro monatlicher Rate wird es viele geben, die sagen: „Bitte Chef, ermögliche mir das“, ist Bauer überzeugt.