Der Überraschungsfaktor Corona
Markus Hengstschläger ist ein viel beschäftigter Mann. Der 1968 geborene Linzer ist Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik in Wien, er ist Buchautor, Moderator des Ö1-Formats „Radiodoktor“, Mitglied der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt und des Universitätsrats der Johannes Kepler Universität – und seit mehr als einem Jahrzehnt ist er wissenschaftlicher Leiter der oberösterreichischen Denkfabrik Academia Superior. In dieser Funktion begrüßte er Persönlichkeiten wie die Politikerlegende Hans-Dietrich Genscher (1927 – 2016), den Vater der Antibabypille Carl Djerassi (1923 – 2015), den Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa oder die saudische Frauenrechtlerin Manal al-Sharif.
Wir leben in einer VUKA-Welt
Zukunftstrends wurden benannt und „Surprise Factors“, also Überraschungsfaktoren, in jährlichen Veranstaltungen präsentiert. 2019 standen noch die „Vermessung der Zukunft“ und die Frage, ob menschliches Verhalten anhand von Algorithmen vorhersagbar sei, im Zentrum. 2020 war dann der Überraschungsfaktor wirklich überraschend: Der Thinktank stellte seine Online-Veranstaltungen des gesamten Jahres unter das Thema „Surprise Factor Corona“ und musste sich eingestehen: Wir leben in einer drehbuchfreien Zeit. „Uns wurden die Grenzen der Technologie drastisch vor Augen geführt“, sagt Hengstschläger in einer Rückschau auf ein Jahr Pandemie gegenüber CHEFINFO: „Wir leben zusehends in einer VUKA-Welt, die Zeiten sind: Volatil, Ungewiss, Komplex und Ambivalent. Das fordert uns in allen Bereichen und wirft die zentrale Frage auf, wie man die Lösungsbegabung der Menschen entwickeln und abrufen kann. Mehr denn je liegt es jetzt daran, die Chancen und Potenziale jedes und jeder Einzelnen zu fördern. Selbstorganisation und Selbstverantwortung gehören zu den wichtigsten Eigenschaften des 21. Jahrhunderts, die bereits bei Kindern gefördert werden müssen. Eine Aufgabe auch für den Bildungssektor.
Der Mensch ändert sein Verhalten
Spannend sei für ihn die Erfahrung während der Pandemie gewesen, dass menschliche Verhaltensänderungen bei entsprechenden Rahmenbedingungen möglich sind. „Das ist eine Erkenntnis, die für die Umweltthematik von großer Bedeutung sein kann.“ Die Politik war auf die Pandemie nicht gut vorbereitet. Was will man besser machen? „Wir haben in den vergangenen Monaten in einem Kooperationsprojekt mit Experten aus dem Gesundheits- und Sozialbereich über die bisherigen Lehren aus der Pandemie diskutiert. Ein Ergebnis daraus sind einige Befunde, wie wir unser Gesundheitssystem in Zukunft krisensicherer machen können. Das geht vom Ausbau der digitalen Angebote im Gesundheitswesen über das Festlegen von klaren Richtlinien und Standard Operating Procedures bis hin zu einer besseren Datenerhebung“, sagt Christine Haberlander, Landeshauptmann-Stellvertreterin und Obfrau von Academia Superior.
Wozu sind Thinktanks gut?
Welchen Nutzen Gesellschaft, Politik oder Wirtschaft von der Arbeit der zahlreicher werdenden Denkfabriken generell ziehen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Für Hengstschläger war die Ausrichtung von Beginn an allerdings eine andere: „Wir sind nicht nur ein Thinktank, sondern ein Do-Tank. Wir versuchen, Expertenwissen ohne ideologische Scheuklappen anzuzapfen und lösungsorientiere Handlungsempfehlungen zu entwickeln, die wir dann allen Interessierten zur Verfügung stellen.“ Die Aufgabe der Wissenschaft sei es, neue Erkenntnisse zu erlangen. Die Aufgabe von Führungskräften ist es, fundierte Entscheidungen zu treffen. „Als Thinktank verdichten wir bestehendes Wissen und stellen es so zur Verfügung, dass Entscheidungsträger informierte und gute Entscheidungen fällen können, die auf Fakten am aktuellen Stand des Wissens basieren. Wir sehen uns als Brücke zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft“, sagt Claudia Schwarz, Geschäftsführerin der Academia Superior.
Was bleibt von den 2010er Jahren?
Die Pandemie wird eine bedeutende kollektive Erinnerung in den kommenden Jahrzehnten bleiben, ist Hengstschläger überzeugt. Aber was bleibt historisch von den 2010er Jahren? Für Hengstschläger ist es das Jahrzehnt, in dem die mobile Internetnutzung ihren Durchbruch erlangte und die Digitalisierung so ziemlich alle Bereiche des Lebens erreichte. Es waren auch die entscheidenden Jahre, wo es zu einem globalen Umdenken bezüglich des Klimawandels gekommen ist. „Ein echter Wendepunkt“, sagt der Genetiker. Das vergangene Jahrzehnt war auch von einem „Global Shift“ in Richtung multipolarer Welt geprägt, mit wachsendem Einfluss von China und anderen Staaten. Und schließlich stehen die „Zehner“-Jahre für die Zeit, in der sich soziale Medien global ausbreiteten und diese die Medienwelt auf den Kopf stellten. „Wir haben auch erkannt, dass soziale Medien klare Normen brauchen, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie nicht zu gefährden. Da liegen noch große Aufgaben vor uns – Stichwort: Fake News.“