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Bildungsreise durch Österreich

11.09.2024 um 11:55, Jürgen Philipp
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Vor exakt 250 Jahren hat Maria Theresia den Grundstein für unser Bildungssystem gelegt. Seitdem steht es in der Dauerkritik. Doch es gibt Lösungen und Visionen.

Ein alter Witz beschreibt das Grunddilemma der Kritik am Bildungssystem: „Was tut man mit einem Menschen, der 100 Jahre lang im Eis verschollen war und wieder aufgetaut ist, um ihn vorsichtig an die neuen Zeiten zu gewöhnen?“ „Man setzt ihn in eine Schule, denn da hat sich nur sehr wenig verändert“. Vor exakt 250 Jahren hat Kaiserin Maria Theresia die Schulpflicht eingeführt. Damals saßen bis zu 100 Schüler in einer Klasse, mussten kilometerlange Schulwege auf sich nehmen und wurden von Lehrern unterrichtet, die mit ihrem Brotjob kaum über die Runden kamen. Es hat sich also vieles verändert und doch scheint das System mit dem großen Wandel in der Gesellschaft nicht mehr mitzukommen. Wir haben eines der teuersten Bildungssysteme der Welt, bleiben aber beim Output unter dem Schnitt. Estland hingegen hat sich bei den Leistungen an die OECD-­Spitze katapultiert, und das, obwohl das Land ein um ein Drittel geringeres Bildungsbudget im OECD-Schnitt hat. ­Andreas Salcher ist Unternehmensberater, Bestsellerautor und kritischer Vordenker in Bildungsthemen. Er weiß warum: „Fast alle Kinder in Estland besuchen ab dem dritten Lebensjahr den Kindergarten und es gibt flächendeckend echte Ganztagesschulen mit intensiver individueller Förderung. Nur 5 Prozent der estnischen Lernenden fallen in die Kategorie der leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler. Dem stehen in Estland mehr als 20 Prozent leistungsstarke Lernende gegenüber.“

Vor 250 Jahren führte Maria Theresia die Schulpflicht ein. Seitdem besteht ein System, das ständig im Wandel ist und ebenso ständig im Kreuzfeuer der Kritik steht.
Vor 250 Jahren führte Maria Theresia die Schulpflicht ein. Seitdem besteht ein System, das ständig im Wandel ist und ständig im Kreuzfeuer der Kritik steht.

Mittelmaß aller Dinge?

Salcher ist Mitbegründer der „Sir Karl Popper Schule“ für besonders begabte Kinder und initiierte 2004 die „Waldzell Meetings“ im Stift Melk, an denen sieben Nobelpreisträger und der Dalai Lama teilgenommen haben. Seit 2008 engagiert sich Andreas Salcher mit seinem „CURRICULUM PROJECT“ für bessere Schulen. Er gilt als echter Kenner und Vordenker des Bildungssystems und schrieb neun Nummer-eins-Bestseller, darunter „Nie mehr Schule – nur mehr Freude“ oder „Der talentierte Schüler und seine ewigen Feinde“. Er kennt die Stolpersteine die großen Reformen im Weg stehen: „Mit wenigen Ausnahmen hat sich in den meisten OECD-Ländern gezeigt, wie schwierig es ist, nationale Schulsysteme trotz wachsender Herausforderungen grundlegend zu reformieren, um den veränderten Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden.“ Salcher sieht auch in Österreich hervorragende Schulen, die aber „weitgehend isoliert bleiben“, dennoch reicht ein Blick über den Tellerrand, um besonderes gute Bildungssysteme zu identifizieren. Etwa im viel zitierten „Pisa-Serienmeister“ Finnland: „Finnland hat das ,phenomenon based learning‘ eingeführt, um aus der  ,Stoff-Falle‘ herauszukommen und stärker Skills-orientiert zu arbeiten. Das bekannt innovative finnische Schulsystem beschreitet damit einen Weg, indem es die Schulfächer zwar nicht abgeschafft hat, aber die Grenzen zwischen den Gebieten großflächiger gestaltet wurden.“ Im Gegensatz zu Österreich genießt Lehrpersonal höchstes gesellschaftliches Ansehen. Der Lehrerjob ist begehrt und die Finnen können sich die Besten aus den zahlreichen Bewerbern aussuchen. Für Salcher kein Zufall: „Funktioniert hat die Skalierung von Innovationen in Bildungssystemen vor allem dann, wenn diese massiv von der Regierung initiiert und durchgesetzt wurde.“ Auch in Österreich sieht der Bildungsexperte große Potenziale, „die es gilt, zukunftsfreudig und innovativ zu nutzen. Bildung ist dafür der größte Hebel, den wir als kleines Land haben. Dafür ist ein neues Set-up notwendig. Wir müssen anfangen, starre Systeme durch lernende, lebendige Systeme zu ersetzen.“

Die Esten sind die Besten: 5 Prozent leistungsschwache Schüler stehen  20 Prozent leistungsstarken Lernenden gegenüber, dabei ist das System um 30 Prozent günstiger als der OECD-Schnitt.
Die Esten sind die Besten: 5 Prozent leistungsschwache Schüler stehen 20 Prozent leistungsstarken Lernenden gegenüber.

Skepsis gegenüber Hochbegabung

Jene Starre, welche die Sir Karl Popper Schule durchbricht. Sie fokussiert sich auf die Talente von jungen Menschen und auf Begabungen. „Der genetische Unterschied zwischen Menschen beträgt 0,1 bis maximal 0,5 Prozent. Der Nobelpreisträger unterscheidet sich bei den Leistungsvoraussetzungen genetisch vom Sonderschüler daher nur im Promillebereich.“ Ein scheinbar kleiner Unterschied mit großer Auswirkung, „weil ungemein viel Information in der DNA gespeichert ist. Die ungleichen genetischen Veranlagungen zeigen sich aber nur dann in Leistungsunterschieden, wenn sie auch genutzt werden, vor allem durch individuelle Anstrengung und durch das soziale Umfeld zum Beispiel fördernder Eltern und motivierender Lehrer.“ Salcher sieht in Österreich eine gewisse Skepsis gegenüber kognitiver Hochbegabung. Während sportliche und künstlerische Veranlagungen in Fußballakademien, Skigymnasien oder Musikschulen gefördert sind, halten sich hartnäckige Vorurteile gegen kognitiv Hochbegabte, etwa wie, dass sich Hochbegabte im Leben ohnehin durchsetzen würden. „Das ist wissenschaftlich eindeutig falsch.“ 

Elementare Pädagogik

Den Grundstein für eine gute Bildungskarriere sieht der 63-Jährige in der Elementarpädagogik: „Wenn wir heute die besten Kindergärten der Welt schaffen, dann werden wir in zehn Jahren eines der besten Bildungssysteme der Welt haben“, verrät er im Interview. Salcher sieht darin den großen Vorsprung der führenden Bildungsnationen. „Sie bilden ihre Elementarpädagogen akademisch aus. Die Gruppengrößen sind vier im Kleinkinderbereich bis acht für größere Kinder. In Österreich bekommen Elementarpädagogen keine akademische Ausbildung und wissen daher wenig über neue frühkindliche wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Gruppengrößen liegen bei uns bei 20 pro ausgebildeter Elementarpädagogin und einer Hilfskraft.“ Salcher sieht darin Startnachteile, die durch „unser veraltetes Schulsystem nicht kompensiert“ werden. Die Zahlen sind alarmierend: Jeder ­fünfte ­15-Jährige kann nach neun Jahren Pflichtschule nicht sinnerfassend lesen und scheitert an einfachsten mathematischen Aufgaben. „Hier werden systematisch Lebenschancen vernichtet, und wirtschaftlich ist das eine nationale Katastrophe, die immer deutlicher beim Fachkräftemangel erkennbar wird.“

Wir müssen anfangen, starre Systeme durch lernende, lebendige Systeme zu ersetzen.

Andreas Salcher, Bestsellerautor und Bildungsexperte

Integrative Schulsysteme

Die Ausrede, dass unser Bildungssystem durch hohen Migrationsanteil in den Schulen auf die Probe gestellt werde, lässt der Experte nicht gelten. „In Kanada liegen die Leistungen von Kindern mit Migrationshintergrund im englischsprachigen Teil weit über dem Durchschnitt der OECD-Länder. Entscheidend dafür ist die an klaren Kriterien orientierte Einwanderungspolitik, aber sicher ebenso das integrative Schulsystem Kanadas mit seinen leistungsorientierten Gesamtschulen und Ganztagsstrukturen. Mit konsequenten Strategien wurde eine lernseitige Kultur in den Schulen etabliert.“ Salcher sieht die Lösungen am Tisch liegen. Sein Optimismus spiegelt sich im Titel seines neuesten Buches wider: ­„Unsere neue beste Freundin, die Zukunft.“

Kanada weist die besten Leistungen von Kindern mit Migrationshintergrund auf. Das integrative Schulsystem setzt auf leistungsorientierte Gesamtschulen und Ganztagsstrukturen.
Kanada weist die besten Leistungen von Kindern mit Migrationshintergrund auf. Das integrative Schulsystem setzt auf Gesamtschulen und Ganztagsstrukturen.

Mehr Praxisnähe

Zu Maria Theresias Zeiten bestanden die Schulfächer im Wesentlichen in Lesen, Rechnen und Religion. Im Laufe der Jahre wurde das Curriculum erweitert, Schulzweige etablierten sich. Das System wurde an den Zeitgeist und die Bedürfnisse der Wirtschaft angepasst. 250 Jahren nach Einführung der Schulpflicht will ebenfalls eine Theresa – Theresa Ganhör – den Lehrplan lebensnäher machen.  Sie leitet den Businesszweig des BG WRG Körnerstraße, ist leidenschaftliche Lehrerin und für die Linzer VP im Gemeinderat für Bildung, Frauen und Familien tätig. „Schule war noch nie nur ein Ort von Wissensvermittlung, sondern dient seit jeher auch der sozialen und persönlichen Entwicklung.“ Sie sieht überbordende Schulbürokratie als eines der Hemmnisse im Schulbetrieb. „In manchen Klassen kommt man kaum zu Stoff, viel weniger noch zu fächerübergreifenden Projekten.“ Dazu fokussiere man sich „im hektischen Schulalltag viel zu sehr auf die Schwächen der Kinder, anstatt lebensnahe Inhalte zu vermitteln.“ Lebens­nahe Inhalte wie das von ihr geforderte Schulfach „Finanzbildung“. „Finanz- und Wirtschaftsbildung ist essenziell, um fundierte finanzielle und gesellschaftliche Entscheidungen zu treffen. Dabei geht es nicht nur um Theorie, sondern es soll junge Menschen befähigen, Gelerntes im täglichen Leben anzuwenden und bestmöglich für die Zukunft vorzubereiten.“ Um diese Themen interessant und praxisnahe zu vermitteln, wünscht sich Ganhör mehr Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und den Betrieben.

Bildung kostet Geld. Auch wenn 1972 Studiengebühren abgeschafft und das System für alle geöffnet wurden, müssen 56 Prozent aller Studierenden in Österreich nebenbei arbeiten.
BildAuch wenn 1972 Studiengebühren abgeschafft wurden, müssen 56 Prozent aller Studierenden in Österreich nebenbei arbeiten.

Wirtschaft-Wissen-Wohnen

Lange bevor die Schulpflicht eingeführt wurde, gab es Universitäten. 1365 die erste in Österreich – die Universität Wien. Die erste ihrer Art weltweit entstand 859 in ­Marokko. Fatima al-Fihri war deren Stifterin. Ihr ganzes Erbe floss in die Al-Qarawiyyin-Universität. Der ­heute noch für Universitäten gebräuchliche Name „Alma Mater“ – „Die ­nährende Mutter“ – geht auf al-­Fihri zurück. Universitäten blieben jahrhundertelang ein Ort der Privilegierten, des Adels und des Klerus – und der Männer. Erst 1897 durften ­Frauen in Österreich studieren. Ein ­Studium, das viel Geld ­kostete und den bürgerlichen Eliten vorbehalten war. Das änderte sich erst in der Ära ­Kreisky. ­Kreisky ­schaffte 1972 die Studiengebühren ab. Die Zahl der Studierenden in Österreich verdoppelte sich zwischen 1969/70 und 1978/79 auf über 100.000. Heute sind 390.000 Studierende an Unis, Fachhochschulen und Akademien inskribiert. Damit stieg auch der Bedarf an Wohnraum. Manfred Schauberger hat als Unternehmensberater das Ohr an der Wirtschaft und kennt die Ansprüche der Unternehmen an das Bildungssystem. Er ist aber auch WIST-Vorstand und hat einen etwas anderen Zugang zum universitären bzw. Hochschulbetrieb. „Mit den Fachhochschulen und der neuen IT:U ist Oberösterreichs akademische Bildungslandschaft in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen. Die Infrastruktur rundherum hinkt diesen Ansprüchen allerdings hinterher.“ Der Studierendenträger WIST stellt Studierenden seit 1960 Wohnraum zu leistungsgerechten Preisen zur Verfügung. Wohnraum, der künftig dringend nötig sein ­könnte. „Wenn die IT:U einmal im Vollbetrieb 5.000 bis 9.000 Studierende zählt und nur 10 Prozent davon einen Studentenheimplatz brauchen, benötigen wir 500 bis 900 neue Wohneinheiten.“ Derzeit hält die WIST OÖ in ihren Häusern rund 1.100 Plätze für Studierende bereit.

Finanz- und Wirtschaftsbildung ist essenziell, um fundierte fi­nanzielle und gesellschaftliche Entscheidungen zu treffen.

Theresa Ganhör, Gemeinderätin und Lehrerin
Theresa Ganhör
Theresa Ganhör, Gemeinderätin und Lehrerin.

High-Potentials halten

Wohnen wird für den Finanz- und Wirtschaftsexperten zur Wissensstandortfrage und damit zur Frage, wie man hochqualifizierte Absolventen und Lehrpersonal im Land halten kann. „In meiner tagtäglichen Arbeit als Berater für KMU habe ich die Hand am Puls der Wirtschaft und kenne die brennendsten Themen. Jede wirtschaftliche Entwicklung schlägt zu meinen Kunden durch. Wenn wir den Standort sichern wollen, dann brauchen wir High-Potentials. Wirtschafts- und Wissensstandort bedingen einander.“ Der Schlüssel dazu sei passender, mit den Bedürfnissen und der Nachfrage dieser High-Potentials, mitwachsender Wohnraum. Das verlangt auch Wachstum seitens der WIST. Das „Haus Barbara“ der WIST wird daher zum Leuchtturmprojekt. Gemeinsam mit Projektpartner LINZ AG entsteht eine riesige ­PV-Fassade mit einer Leistung von 327 kWp und einer Gesamtjahresleistung von etwa 280.000 kWh. „Die Fassade dämmt und senkt die Heizkosten, gleichzeitig sinkt der Strompreis. Diese Einsparungen wollen wir unseren Mietern wieder solidarisch zukommen lassen.“ Mit der „WIST-Strategie 2030“ sieht sich Schauberger „bereit für die Zukunft“.

Wenn wir den Standort sichern wollen, dann brauchen wir High-Potentials. Wirtschafts- und Wissensstandort bedingen einander.

Manfred Schauberger, Unternehmensberater und WIST-Vorstand

Selbstorganisation

Leistbares Wohnen ist für den Managementberater daher mehr denn je zur Karrierefrage geworden. Rund 56 Prozent aller Studierenden müssen in Österreich nebenbei arbeiten, um sich ihre Ausbildung leisten zu können – der höchste Wert in den OECD-Ländern. „In den 1970er-Jahren gelang es, dass auch Kinder aus ärmeren Familien studieren konnten. Heute geht es oft darum, ob ich es mir leisten kann, an einem anderen Ort zu studieren.“ Für Schauberger ist dieser Ortswechsel Teil der Persönlichkeitsentwicklung. „Von zu ­Hause weg zu sein und sein Leben selbst zu organisieren ist eine unschätzbare Erfahrung. Man muss sich sein Leben und seine Ausbildung organisieren. Man ist selbstverantwortlich.“ Daher ist es für Schauberger in einer digitalen Gesellschaft geradezu anachronistisch, dass Studien heute immer verschulter werden. „Selbstorganisation tritt in den Hintergrund. Dazu kommt, dass man bei zu wenig Anwesenheit oder zu wenigen ECTS-Punkten schnell ein Semester verliert.“ Wie ein perfektes Bildungssystem vom Kleinkind bis zum jungen Erwachsenen aussieht, ist seit Maria Theresia ein ewiger Streitpunkt. Fakt ist, es muss immer in Bewegung bleiben – und das ist es, seit 250 Jahren.

Der Wissensstandort Oberösterreich bekommt mit der IT:U einen neuen „Leuchtturm“. Dennoch hinkt die Infrastruktur wie studentischer Wohnraum hinterher.
Der Wissensstandort Oberösterreich bekommt mit der IT:U einen neuen „Leuchtturm“. Dennoch hinkt die Infrastruktur wie studentischer Wohnraum hinterher.

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