Bernd Lamprecht: Im Auge des Orkans
CHEFINFO: Herr Professor Lamprecht, wie hat sich die Lage in der Spitalslandschaft zuletzt entwickelt?
Bernd Lamprecht: Die Lage ist angespannt, weil die zur Verfügung stehenden Ressourcen an Betten auf Normalstationen oder Intensivstationen zu einem hohen Prozentsatz ausgeschöpft wurden. Und das ist auch nur möglich, weil andere planbare und verschiebbare Leistungen deutlich reduziert wurden. Das ist einzigartig und hat es in dieser Form für die Spitalslandschaft in Oberösterreich oder Österreich insgesamt noch nicht gegeben. Das ist auch ein eklatanter Unterschied zu den jährlich wiederkehrenden Grippewellen, bei der einige Betten neben der Normalversorgung maximal aufgestockt worden sind. Jetzt müssen ganze Stationen und Abteilungen ihre Arbeit komplett verändern und hier Patienten in einem Ausmaß versorgen, wie das in dieser Form noch nie da war. Es wird sich alles nur knapp ausgehen und das, obwohl Oberösterreich und Österreich ausgezeichnete Gesundheitssysteme haben.
CHEFINFO: War die Situation bei uns in Österreich vergleichbar mit jener Italiens oder Spaniens im Frühjahr?
Lamprecht: Mit diesen Neuinfektionszahlen hätten wir Zustände jetzt erlebt, die in Norditalien im Frühjahr zu sehen waren. Uns hat gerettet, dass ganz andere medizinische Ressourcen vorhanden waren. Österreich ist neben Deutschland am besten mit Intensivbetten in Europa ausgestattet. Wir haben etwa 29 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner, Italien hat neun pro 100.000 Einwohner, der EU-Schnitt liegt bei 16. Letztlich war es der Polster in der Intensivbettenversorgung, der uns vor der Katastrophe bewahrt hat.
Diese Pandemie hat eine unglaubliche Kooperation unter Forschern hervorgerufen. Es haben Wissenschaftler aus aller Welt ihre Ergebnisse sehr rasch zur Verfügung gestellt.
CHEFINFO: Wie sieht Ihre Bilanz als Wissenschaftler und Arzt am Ende des Jahres aus?
Lamprecht: Für eine abschließende Bilanz ist es leider noch zu früh. Aber was ich gemerkt habe: Diese Pandemie hat eine unglaubliche Kooperation unter Forschern hervorgerufen. Es haben Wissenschaftler aus aller Welt ihre Ergebnisse sehr rasch zur Verfügung gestellt – in einer Form, wie das sonst wegen befürchteter Wettbewerbsnachteile nicht passiert. Erstaunlich ist auch die Geschwindigkeit, mit der in der Forschung Ergebnisse erzielt wurden, zum Beispiel im Bereich der Impfstoffentwicklung, die üblicherweise Jahre in Anspruch nimmt. So etwas hat es in dieser Form auch noch nicht gegeben.
CHEFINFO: Wie geht es Ihnen als Wissenschaftler damit, wenn Experten so unterschiedliche Meinungen zu COVID-19 haben?
Lamprecht: Diese Meinungsvielfalt ist wichtig, aber es ist auch extrem schwer für politisch Verantwortliche, eine Entscheidung zu finden, wenn man Berater hat, die sich diametral widersprechen. Das ist aus meiner Sicht eines der größten Probleme. Ich habe fast den Eindruck, dass wir in Österreich die Kontrolle über die Pandemie in diesem Moment verloren haben, als die Meinungsvielfalt sehr groß geworden ist. Es ist sicherlich nicht gut, wenn Politiker nur noch auf zwei, drei Berater hören – das kann auch in die falsche Richtung führen. Aber als sich quasi jeder zu Wort meldete, weil er Experte ist – so wie wir es von Fußball und Schule kennen –, hat dies zu einer weiteren Verunsicherung geführt und es sind am Ende keine Entscheidungen mehr getroffen worden. Das müssen wir jetzt bezahlen.
Ich habe fast etwas den Eindruck, dass wir in Österreich die Kontrolle über die Pandemie in diesem Moment verloren haben, als die Meinungsvielfalt sehr groß geworden ist.
CHEFINFO: Hat Sie die zweite Welle nicht überrascht?
Lamprecht: Nein, überhaupt nicht, weil das Virus nicht verschwindet. Wir hatten das Dilemma, dass wir einerseits einen sehr frühzeitigen und sehr wirksamen ersten Lockdown gehabt haben. Die angekündigte Katastrophe ist ausgeblieben und die Leute haben sich gedacht: Stimmt ja alles nicht. Das war gar nicht so schlimm. Diese Ansicht wurde über den Sommer bestätigt, weil nahezu alle Maßnahmen zurückgenommen wurden. Was die Politik verabsäumt hat zu sagen: Es ist ernst, aber es gibt eine Perspektive. Die sieht so aus, dass wir Risikogruppen und Gesundheitspersonal im Laufe des Jahres 2021 schützen können. Ich glaube, wenn man das vermittelt hätte, dann hätten sich auch mehr Menschen mit diesen Maßnahmen für diesen überschaubaren Zeitraum anfreunden können.
CHEFINFO: Die Zeit bis zur Impfung wird also noch lang und hart?
Lamprecht: Bis es eine Impfung gibt, braucht es Präventionsmaßnahmen, um die Ausbreitung des Virus zu bremsen. Ich glaube, das Schweizerkäse-Modell passt da ganz gut. Man stelle sich einen Schweizerkäse mit seinen Löchern vor, der in Scheiben geschnitten ist. Die Löcher sind klein und nicht gleichmäßig hintereinander. So kann Scheibe um Scheibe die Ausbreitung bremsen. Eine Scheibe wäre die Mund-Nasenschutz-Maske, eine Scheibe wäre die Händedesinfektion, Abstand halten oder der Lockdown, eine weitere die Teststrategie oder das Contact Tracing – alles miteinander kann die Ausbreitung ganz gut bremsen.