Perspektivengeber Simon Burtscher-Mathis
Wie beeinflusst die Digitalisierung die Arbeit im Kinderdorf?
Simon Burtscher-Mathis: Smartphones sind omnipräsent, auch bei uns Erwachsenen als Role Models. Fehlende Gemeinschaftserlebnisse, wie gemeinsame Mahlzeiten oder Gespräche, hinterlassen Spuren. Für die kognitive Entwicklung brauchen Kinder vielfältige Erfahrungsräume mit Peers und Erwachsenen. Im Vorarlberger Kinderdorf geben Gemeinschaftsstrukturen Halt und Erwachsene geben Orientierung. Präventive Hilfen wie das Netzwerk Familie in Dornbirn unterstützen seit 15 Jahren Eltern mit Kindern bis 3 Jahren, um die frühe Bindung zu fördern.
Das Kinderdorf Vorarlberg ist unverzichtbarer Teil unserer Soziallandschaft?
Simon Burtscher-Mathis: In den letzten 70 Jahren fanden 1260 stationär untergebrachte Kinder im Kinderdorf Kronhalde einen sicheren Ort – ca. 80 % dieser Kinder leben danach ein eigenständiges Leben. Der Mehrwert solcher Angebote für die Gesellschaft und die Wirtschaft ist enorm: Ohne diese Strukturen zerbricht der Zusammenhalt in der Gesellschaft, mit hohen Folgekosten von bis zu 2 Millionen Euro pro Kind. Aktuell haben wir 54 stationäre Plätze im Kinderdorf Kronhalde, 60 teilstationäre Plätze mit Schulplatz in der Paedakoop, 150 Pfegefamilien und ambulante Hilfen für über 400 Familien. Zusätzlich engagieren sich 150 Ehrenamtliche, die Kindern Zeit schenken und so Eltern im Alltag entlasten.
Gibt es noch Kinderdorfmütter?
Simon Burtscher-Mathis: Das frühere Modell der Kinderdorfmütter mit 21 Tagen rund um die Uhr im Dienst, gefolgt von einer Woche frei, ist heute nicht mehr umsetzbar. Stattdessen gibt es familiäre Wohngruppen für Kinder von fünf bis 18 Jahren. Bis zu acht Kinder wachsen in einem familienähnlichen Verband auf, betreut von Sozialpädagog:innen und Psycholog:innen. Jedes Kind hat eine feste Bezugsperson, unterstützt durch eine Haushälterin. Unter Fünfjährige kommen in Pflegefamilien, die von uns vorbereitet und unterstützt werden. In Vorarlberg leben etwa 200 Kinder in 150 Pflegefamilien, die freiwillig ihre Hilfe anbieten, – ein beeindruckender Akt der Solidarität.
Wie kann die Gesellschaft Perspektiven für Kinder schaffen?
Simon Burtscher-Mathis: Die Zeit füreinander ist das Wesentliche. Kinder spüren, wenn Erwachsene sich bewusst auf sie einlassen, ob beim Keksebacken, Spielen oder gemeinsamen Aktivitäten. Geborgenheit und Vertrauen fördern Mut und Experimentierfreude. Perspektiven entstehen durch stabile Beziehungen und Vorbilder. Daher gilt: Jeder Vorarlberger und jede Vorarlbergerin kann Perspektivengeber:in sein, indem er oder sie Kindern Vertrauen schenkt, ihre Fähigkeiten stärkt und sie ermutigt, Neues auszuprobieren.
Zur Person: Simon Burtscher-Mathis
Geschäftsführer Kinderdorf Vorarlberg
- Jahrgang 1976
- Verheiratet, 2 Kinder, Hohenems
- Werdegang: Gymnasium Dornbirn, Soziologie-Studium in Graz, Waterloo (Kanada) und Innsbruck, anschließend Zivildienst bei Maria Summer (Sprachheilstätte), von 2003 bis 2015 bei „okay-zusammen leben“, ab 2016 freischaffender Soziologe, parallel ab 2020 beratend in der Geschäftsleitung im Kinderdorf. Seit Juli 2021 gemeinsame Geschäftsführung mit Alexandra Wucher, 318 Mitarbeitende
- Hobbies: Lesen, Rennrad-, Skifahren, Laufen, Wandern, Bergsteigen
- Den tröstenden VoKi-Bär gibt es hier:
www.vorarlberger-kinderdorf.at