Wann ist ein Mann ein Mann?
Klar, Männer kriegen keine Kinder. Sie kriegen dünnes Haar. Oder einen Herzinfarkt. Sie sind furchtbar stark, weinen heimlich und wurden als Kind schon auf Mann geeicht. So weit Grönemeyer in seinem Song „Männer“. Aber wie sieht es in der Wirklichkeit aus? Immerhin sind wir heute so weit, dass Buben mit Puppen spielen und Männer auch weinen dürfen. Zumindest hin und wieder. Nicht zuletzt die Corona-Krise hat uns gezeigt, dass Männer in mancherlei Hinsicht überdurchschnittlich verletzlich sein können: So haben sie beispielsweise eine höhere Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben. Gibt es bei der Geburt Komplikationen, haben männliche Neugeborene schlechtere Chancen, mit dem Leben davonzukommen. Die Selbstmordrate bei Männern ist beinahe viermal so hoch wie bei Frauen. Es ist eine der Auswirkungen des Patriarchats: Die Verletzlichkeit des Mannes wird verschwiegen.
Ladies first.
Ist der Mann deshalb als besonders schützenswert anzusehen? Sollte er – zum Beispiel – bevorzugt geimpft werden? Was in der Theorie logisch erscheint, würde in der Praxis wohl kaum gesellschaftlich akzeptiert werden. Seit jeher heißt es im Katastrophenfall: Frauen und Kinder zuerst. Warum? Sie sind für das Überleben der Gemeinschaft essenziell, Männer weniger und selbst wenn, dann nur in geringer Zahl. Ein Männerüberschuss ist für eine Gesellschaft eher problematisch und wurde daher in der Geschichte in regelmäßigen Abständen ausgemerzt, durch Kriege etwa. Um den leichtfertigen Umgang mit Männerleben zu rechtfertigen, wurde der Heldentod erfunden. Diese Idee, dieser Drang nach heldenhaften Taten lebt bis heute weiter – und lässt junge Männer mitunter riskante, ja dumme Dinge tun. Kein Wunder, dass die Wahrscheinlichkeit, bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen, bei Männern dreimal höher liegt als bei Frauen – um nur ein Beispiel zu nennen. Frauen stießen Schritt für Schritt bis in die letzten Bastionen der Männlichkeit vor. Viele der Männer, die zu Dr. Klaus Sejkora in die Praxis kommen, tun sich schwer mit der veränderten Rolle der Frau. „Frauen sind eigenständiger geworden, sie brauchen nicht mehr unbedingt einen Mann, um leben, auch um gut leben zu können. Früher war dasAlleinsein schon sehr angstbesetzt für viele Frauen. Männer müssen jetzt mit etwas zurechtkommen, womit sie nicht gerechnet haben, nämlich auch allein zu leben“, so der Psychologe.
Ralf Marterer, Sexualcoach und Sexualpädagoge:
Für viele Männer ist die eigene Potenz eine zentrale Maßeinheit für das Selbstbewusstsein. Mit der Fähigkeit zur Erektion steht und fällt auch das männliche Ego. Die Potenz eines Mannes beeinflusst die Lebenseinstellung, die Persönlichkeit und das Verhalten. Kein Mann kann immer, schließlich ist er keine Maschine, und die Anforderungen von Job und Familie lassen die Leistungskurve gern mal einknicken. Die wichtigste Regel lautet dann: Don‘t panic. Wer ständig ans Versagen denkt, ist erst recht unentspannt.
Gewaltiges Problem.
Gerade der „alte, weiße Mann“ hat heutzutage mit Imageproblemen zu kämpfen. Er ist schuld an den großen Übeln der Welt wie Krieg, Ungleichheit, Unterdrückung der Frau. Unerschütterlich sitzt er an den Hebeln der Macht. Die Tatsache,dass wir im Mai 2021 in Österreich den 11. Frauenmord schreiben und die Täter jeweils Partner oder Ex-Partner waren, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass wir es hier mit einem substanziellen gesellschaftlichen Problem zu tun haben. Einerseits werden betroffene Frauen immer noch nicht ausreichend geschützt. Hier liegt der Ball bei der Politik. Aber vielleicht hat ein Staat, dessen politische Spitze ein Bundespräsident, ein Bundeskanzler und ein Vizekanzler bilden, andere Prioritäten als den Schutz des anderen Geschlechts. Andererseits scheint es offensichtlich, dass auch ein Zusammenhang zwischen den vorherrschenden Rollenbildern und geschlechtsbezogener Gewalt besteht.
Dr. Klaus Sejkora auf die Frage, warum Männer eine so hohe Suizirate aufweisen:
Weil Männer mit Hilflosigkeit ganz schlecht umgehen können. Da ist genauso das Gewaltthema. Ob ich in meiner Hilflosigkeit meine Gewalt gegen einen anderen Menschen richte oder gegen mich selbst, macht im inneren Mechanismus, in der inneren Dynamik keinen Unterschied. Niemand ist gerne hilflos und doch sind wir es alle immer wieder. Gewalt heißt immer, ich will die Hilflosigkeit nicht ertragen. Ich bin hilflos, weil meine Frau einen anderen hat, hilflos, weil meine Frau sich scheiden lassen will. Klar sind wir da hilflos, aber das ist so ein Mythos, man darf nicht hilflos sein.
Zum Erfolg verdammt.
Und wieder stoßen wir auf uralte Rollenbilder: Die Frau ist das Opfer, der Mann der Täter. Aber abgesehen von diesen extremen Formen der Gender-Problematik: Ist in der Männerwelt wirklich alles gut? Natürlich nicht. Männer stehen unter einem enormen Erfolgsdruck. Für sie gibt es im Großen und Ganzen nur ein einziges Rollenbild: Sie müssen erfolgreich sein. „Für Männer ist zu versagen das Beschämendste, was man sich vorstellen kann. Innerhalb der männlichen Rollenstereotypie muss man immer erfolgreich sein, egal, was man tut“, verdeutlicht Dr. Sejkora die Problematik. Die Rollen des Hausmannes oder Vaters sind in dieser Form gesellschaftlich (noch) nicht anerkannt. Sie gelten als „unmännlich“. Nur knapp vier Prozent der Väter gehen in Väterkarenz und auch dann nicht länger als zwei Monate. Warum? Weil dieser Zeitraum vom Gesetzgeber vorgesehen ist und deshalb wird er auch vom Arbeitgeber hingenommen. Eine längere Väterkarenz ist gesellschaftlich nicht akzeptiert – vor allem nicht unter Männern. Wer als Mann dennoch über eine längere Zeit tatkräftig Verantwortung für seine Kinder übernehmen will, sollte sich eine dicke Haut zulegen und schlimmstenfalls auch mit einem Jobverlust rechnen. So lebt die klassische Rollenverteilung weiter. Dabei hätte eine Veränderung durchaus Vorteile für alle Beteiligten: Die Mutter fände leichter wieder in ihren Job zurück, die Beziehung zwischen dem Vater und seinen Kindern würde gestärkt. Ein Mann, der in Väterkarenz geht, kümmert sich auch längerfristig mehr um seine Kinder. Und auch die Vorbildwirkung ist nicht zu unterschätzen: Töchter von gleichberechtigten Paaren sind später erfolgreicher in ihrem Job und Söhne lernen, dass es gut ist, wenn Papa zu Hause mithilft. Schließlich könnte das männliche Rollenbild so um eine ganz essenzielle Facette erweitert werden.