Im Namen der Kinder
Kinder und Jugendliche haben in den vergangenen eineinhalb Jahren auf besonders viel verzichten müssen. Sie haben gehorcht, sich an die Maßnahmen gehalten, Opfer erbracht, obwohl sie nicht zur Risikogruppe gehören. In die Schlagzeilen schafften sie es nur, wenn sich einmal ein paar schwarze Schafe über die Verordnungen hinwegsetzten. Erst als Kinder- und Jugendpsychiater angesichts des drastischen Anstieges an jungen Patienten Alarm schlugen, wurde die Öffentlichkeit aufmerksam. Viele Kinder- und Jugendpsychiatrien sind heillos überfüllt. Die Triage, vor der man in Bezug auf die Intensivstationen immer gewarnt hat, ist hier schon längst Realität. Die Jungen fühlen sich überfordert, alleingelassen, sie werden von Zukunftsängsten geplagt. Ihnen fehlt die tägliche Struktur, der Kontakt zu Gleichaltrigen. Die Leitungen von telefonischen Hilfseinrichtungen wie „Rat auf Draht“ laufen heiß in dieser Zeit. Allseits ist die Belastung groß, doch kommen intakte Familien immer noch besser durch einen solchen Ausnahmezustand als Familien, die sich ohnehin schon aus anderen Gründen im Krisenmodus befinden.
Gewalt in der Familie.
Mittlerweile haben verschiedene Organisationen wie die „Autonomen Österreichischen Frauenhäuser“ (AÖF) auf einen erschreckenden Anstieg bei häuslicher Gewalt aufmerksam gemacht. Bislang standen meist Frauen als Opfer im Fokus, aber auch Kinder werden Opfer von Gewalt, nicht zuletzt, indem sie die Gewalt an der Mutter miterleben müssen. Jeder Lockdown bedeutete für sie: Es gibt kein Entkommen. Was hier hinter verschlossenen Türen passiert? Wir wissen es nicht und werden es größtenteils nie erfahren. Laut WHO werden 90 Prozent der Fälle von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch nie angezeigt. Auch die EU-Agentur für Grundrechte hat zuletzt als Folge der Corona-Pandemie beispiellose und tiefgreifende Auswirkungen auf die Menschenrechte festgestellt. Fälle von häuslicher Gewalt und Kindesmissbrauch haben signifikant zugenommen und ohnehin schon gefährdete Gruppen besonders hart getroffen.
Kinderrechte.
„Auch Kinder haben Rechte!“, erklärte mir unlängst mein achtjähriger Sohn mit einem vorwurfsvollen Unterton, so als würde ich seine Rechte missachten, wenn er beispielsweise kein zweites Eis bekommt. Und es stimmt natürlich: Kinder haben Rechte. Diese Rechte sind grundsätzlich in der UN-Menschenrechtskonvention festgehalten. Das heißt aber nicht, dass diese Rechte auch immer optimal geschützt werden, wie ein Fall zeigt, der vor Kurzem für Schlagzeilen sorgte: Es war am 25. Mai 2012, als ein Vater seinen achtjährigen Sohn aus dem Klassenzimmer in einer St. Pöltner Volksschule holte und ihn in der Garderobe mit einem Kopfschuss tötete . Der Tat waren wiederholte massive Gewalttätigkeiten des Vaters gegen die Ehefrau und die Kinder vorangegangen. Die Mutter des getöteten Kindes hatte in der Folge Klage gegen die Republik Österreich eingebracht – wegen eines Verstoßes gegen das Recht auf Leben, die Behörden hätten die Gefahr erkennen und entsprechend reagieren müssen. Im Juni 2021 erging schließlich das Urteil: Die Republik Österreich wurde freigesprochen. Allerdings: Sieben von 17 Richtern waren anderer Meinung. Was von vielen Stellen immer wieder bemängelt wird, sind fehlende Mittel und mangelnde Zusammenarbeit und Vernetzung der verschiedenen Institutionen. So war die Lehrerin des achtjährigen Buben nicht über die Wegweisung des Vaters informiert worden – eine folgenschwere Fehlentscheidung.
Dem Schutz der Kinder verpflichtet.
In Österreich gibt es eine Reihe von Einrichtungen zum Schutz unserer Jugend wie die Kinder- und Jugendanwaltschaft (KiJA). Dabei handelt es sich um weisungsfreie Einrichtungen der Länder mit der Aufgabe, die Rechte und Interessen von Kindern und Jugendlichen zu vertreten. Einerseits im Einzelfall, das heißt, Kinder und Jugendliche mit Problemen von A wie Armut über M wie Mobbing bis Z wie Zwangsverheiratung können sich an die KiJA wenden. Andererseits gibt es die gesellschaftspolitische Ebene, auf der versucht wird, die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen zu verbessern. Auch Prof. Susanne Greber-Platzer, Leiterin der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde in Wien, engagiert sich für den Schutz von Kindern. Zum einen leitet sie die Forensische Kinder- und Jugenduntersuchungsstelle, kurz FOKUS, deren Aufgabe es ist, mögliche Opfer von Gewalt und Missbrauch zu untersuchen und gegebenenfalls Beweise zu sichern. Auf die Frage, ob es schon Fälle gegeben hätte, die sie nachts wachhalten, antwortet die Medizinerin mit einem klaren „Ja“. Die Belastung für die Mitarbeiter der Stelle ist groß, manche Fälle sind auch für sie traumatisierend. Seit 2004 sind in Krankenhäusern verpflichtend Kinderschutzgruppen einzurichten. Die Verantwortung, die den Ärzten und dem Gesundheitspersonal hier zukommt, ist enorm. Sie müssen rasch handeln, an ihren kleinen Patienten Spuren sichern, abklären und behandeln. 2019 wurde die Österreichische Gesellschaft für Kinderschutz- Medizin (ÖGKiM) gegründet, deren Präsidentin Prof. Greber-Platzer zum anderen ist. Die ÖGKiM soll als übergeordnete Struktur die Kinderschutzgruppen in den Krankenhäusern unterstützen, fortbilden, soll standardisierte Dokumentationsunterlagen zusammenstellen und vernetzen. Ziel ist eine österreichweite Rund-um-die-Uhr- Erreichbarkeit bei Verdacht auf Misshandlung, Kindesmissbrauch oder Vernachlässigung. Erste Anlaufstelle bei Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sind jedoch meist die Kinderschutzzentren, die Betroffenen Hilfe und Beratung bieten. Wenn Kinder, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr bei ihren Familien leben können, kann das Jugendamt sie beispielsweise in einem SOS-Kinderdorf unterbringen. Die Geschichte dieser NGO, die mittlerweile Kinder auf der ganzen Welt betreut, nahm ihren Ausgang übrigens in Österreich.
Nachtrag.
Ich kannte einmal eine Kindergartenleiterin, die jahrzehntelange Erfahrung in der Arbeit mit Kindern hatte. Sie hatte viel gesehen, auch wenn sie nicht oft darüber sprach. Einmal aber sagte sie zu mir: „Wissen Sie, Kinder sind dazu verdammt, ihre Eltern zu lieben.“ Bis heute sind mir diese Worte im Gedächtnis geblieben. Für mich bedeuten sie: Kinder sind an ihre Eltern gebunden durch die Macht der Liebe. Aber auch darüber hinaus sind sie von ihnen abhängig, sind ihnen buchstäblich ausgeliefert. Niemals dürfen wir Erwachsenen diese Macht zum Schaden unserer Kinder missbrauchen.
Frag Alicja ...?
Kinder in der Coronakrise.
Wie hat sich die Corona-Krise auf Kinder und Jugendliche ausgewirkt?
Corona und Lockdown haben sich meist negativ auf die Psyche von Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern ausgewirkt. Angst machende Berichterstattung, die unzähligen Beschränkungen und die Maskenpflicht belasten vor allem die Jüngeren sehr stark. Das belegt jetzt auch eine Studie von Medizinern aus Hamburg: Etwa jedes dritte Kind zeigt demnach Auffälligkeiten. Durch die Schließung von Sportvereinen, Schulen, Spielplätzen und das Verbot von Freizeitaktivitäten verschlechterte sich die physische Gesundheit der Kinder dramatisch. Aber die Pandemie und der lange Lockdown stellen nicht nur ein Risiko für die körperliche Gesundheit dar, sondern können eben auch schwerwiegende Folgen für die Psyche von Kindern und Jugendlichen haben, die sich durch eine Reihe von Symptomen äußern: Stress, depressive Verstimmungen, Aggressionen und Hyperaktivität, Ess-Störungen, Verlustangst, Schulangst, Traurigkeit, Interessenverlust, sozialer Rückzug, Übergewicht durch mangelnde Bewegung und ungesunde Ernährung, Kopfschmerzen, Schlafstörungen. Junge Menschen aus sozial schlechter gestellten Familien hatten es am schwersten: kleinere Wohnungen und damit weniger Rückzugsmöglichkeiten, dazu wenig Geld für digitales Lernen.
Wie können wir Kindern in dieser schwierigen Zeit helfen?
Man kann sich an geschulte Kinder- und Jugendpsychiater wenden, aber auch an die Allgemeinmedizin, Bewegungstherapie, Ernährungsberatung und so weiter. Einiges können wir auch selbst unternehmen! Folgendes kann ich empfehlen: Viel frische Luft und Bewegung, positive Gedanken fördern, negative Gefühle vermeiden, sich selbst auf das Positive ausrichten, hoffnungsvoll über die Zukunft sprechen, Struktur in den Tag bringen, Räumlichkeiten aufteilen, harmonisieren und anpassen, z. B. nach Feng-Shui, Entspannungsübungen und Achtsamkeitsübungen, soziale Kontakte pflegen, ehrliche Gespräche mit den Kindern führen anstatt zu schweigen. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, die Psyche der Kinder zu unterstützen. Das Wichtigste ist jedenfalls ein positives, zukunftsorientiertes Denken. In den vergangenen Monaten hatte ich viele besorgte Eltern in meiner Praxis, die ich mit psychologischer Beratung gut unterstützen konnte.