Die Kraft des Weinens
Zwischen 70 und 100 Liter Tränen vergießt ein Mensch in seinem Leben. Weinen ist ein Ausdruck von Emotionen, der tief in uns verankert ist. Babys weinen, um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern auf sich zu ziehen und ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Doch warum weinen auch Erwachsene, die bereits über andere Formen der Kommunikation verfügen? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es in der Wissenschaft noch nicht.
Emotionale Tränen
Fest steht, dass sich emotionale und reflektorische Tränen voneinander unterscheiden. „Letztere entstehen durch Fremdeinwirkung von außen und beschützen und reinigen das Auge. Emotionale Tränen sind ein Ausdruck unserer Gefühle“, erklärt Psychologin Julia Maier. „In der Wissenschaft finden sich Ergebnisse, die zeigen, dass sich die Zusammensetzung der Tränen unterscheidet“, führt sie aus. So weisen emotionale Tränen eine erhöhte Proteinkonzentration, Werte des Spurenelements Mangan, des Mineralstoffs Kalium und bei Frauen des Hormons Prolaktin auf.
Ausdruck von Gefühlen
Und warum gibt es Menschen, die viel häufiger zu weinen beginnen als andere? „Wir bringen mit unseren Genen alle unterschiedliche Voraussetzungen mit, wenn wir auf die Welt kommen. Auch unser Umfeld trägt entscheidend zu unserer emotionalen Entwicklung bei“, erklärt Maier. „Abhängig von unserem sozialen und kulturellen Umfeld kann Weinen unterschiedlich verstanden werden – beispielsweise als Zeichen für Labilität oder Schwäche. Oder es kann eben auch als ganz normaler Ausdruck in unserem reichhaltigen Gefühlsspektrum wahrgenommen werden“, erklärt Maier.
Holt die Taschentücher
Auch bei den Geschlechtern zeigen sich Unterschiede im Weinverhalten. Erwachsene Männer weinen laut der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) etwa 6- bis 17-mal pro Jahr, während Frauen auf 30- bis 64-mal kommen. Diese Unterschiede zeigen sich jedoch erst ab dem 13. Lebensjahr. Bis dahin weinen Jungs und Mädchen gleich oft und auch aus den gleichen Gründen. „Geschlechtsunterschiede finden sich ab der späten Kindheit. Das kann an der sozialen, kulturellen und/oder neuronalen Entwicklung liegen. Häufig lernen wir im Rahmen unserer Erziehung, Tränen zu unterdrücken. Sätze wie ‚Jetzt musst du wirklich nicht weinen‘ oder ‚Reiß dich zusammen, das tut doch gar nicht weh‘, hören meiner Erfahrung nach Buben häufiger als Mädchen. Das prägt natürlich den emotionalen Ausdruck. Und ich glaube, dass der gesellschaftliche Druck auf Buben steigt, wenn sie älter werden“, führt die Psychologin aus. Einige Studien legen auch einen hormonellen Zusammenhang nahe. So könnte das Testosteron bei Männern dafür sorgen, dass die Hemmschwelle zum Weinen größer ist.
Katharsis
Weinen hat also nichts mit Schwäche zu tun. Es ist sogar ein Zeichen von Stärke. Es bedeutet, dass man sich mit seinen Emotionen auseinandersetzt und diese auch zeigt. Von vielen wird Weinen außerdem als befreiend und eine Art Katharsis, quasi als Seelenhygiene, empfunden. Eine wohltuende Wirkung kann zwar wissenschaftlich nicht festgestellt werden, dennoch wirkt es für viele befreiend und tut einfach ab und zu gut. „Ich stelle in meiner Arbeit oft fest, dass Weinen subjektiv von den meisten Menschen als befreiend erlebt wird. Manche beschreiben es als heilsam zu weinen. Anspannung und Stress würden sich lösen und die Verarbeitung beginnen. Tränen drücken Gefühle wie Wut, Trauer, Schmerz und Freude aus“, meint Maier. Wer Tränen permanent unterdrückt und zurückhält, tut damit auch seinem Stresslevel nichts Gutes und begünstigt Bluthochdruck, Herzerkrankungen und Magenprobleme.
Sozialer Klebstoff
Vor allem aber dient Weinen als natürliches Kommunikationsmittel. „Tränen drücken von klein auf den Wunsch nach Unterstützung und Trost aus. Sie können Nähe und Verbundenheit schaffen und prosoziales Verhalten in unserem Gegenüber anregen“, so die Expertin. Vor einem anderen Menschen zu weinen, erzeugt eine neue Form der Nähe. Dadurch lässt man ihn hinter die Fassade blicken und legt den Drang, perfekt sein zu müssen, ein wenig ab. So sollten wir unseren Kindern vielleicht öfter mal „Lass es einfach raus“ raten, anstatt „Reiß dich zusammen“ zu predigen.
Interview mit Julia Maier, Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin
Was sind die häufigsten Gründe, warum wir weinen?
Menschen weinen aus vielen Gründen. Bei Trauer und Verlust, bei Konflikten im Miteinander, bei Niederlagen, bei Schmerzen, aus Frustration ... und manchmal auch aus überwältigender Freude. Emotionale Tränen fließen als Reaktion auf unsere Gefühle.
Hilft Weinen dabei, Emotionales leichter zu verarbeiten?
Gelingt es uns, durch das Weinen Gefühle auszudrücken, mit diesen umzugehen und Unterstützung zu erhalten, die wir brauchen, dann ja.
Kann es auch zu Depressionen führen, wenn man zu viel weint?
Häufiges Weinen kann neben anderen Symptomen während einer Depression auftreten. Sich gelegentlich auszuweinen ist ganz normal und kann hilfreich sein. Wenn sich diese Situationen aber ungewöhnlich häufen und die Tränen oft grundlos fließen, ist es ratsam, sich psychologische Hilfe zu holen. Eben weil es auch ein Anzeichen einer Depression sein kann. Häufiges Weinen alleine führt aber nicht zu einer Depression.
Ist Weinen ähnlich ansteckend wie Gähnen?
Nein, Weinen ist nicht ansteckend. Unsere Spiegelneuronen können aber aktiv werden. Wenn wir uns beispielsweise einer anderen Person sehr nahe und verbunden fühlen und mit ihr mitfühlen, wenn diese weint, kann es natürlich auch bei uns selbst in der emotionalen Reaktion zu Tränen führen.